Werner Tiki Küstenmacher

simplify your church

20 Jahre ist es her. Da hatte ich begonnen, zusammen mit meiner Frau einen monatlichen Beratungsbrief zu schreiben. Er heißt „simplify your life“, „Vereinfache dein Leben“ und es gibt ihn immer noch. 2001 ist daraus ein Buch entstanden, das zu einem weltweiten Bestseller wurde.

Ich erzähle Ihnen das, weil es vor ein paar Monaten in unserer bayerischen evangelischen Kirche einen Aufruf gab: „simplify your church!“ „Vereinfachen wir doch unsere Kirche!“ Die Präsidentin der Landessynode, Annekathrin Preidel, hatte mit dieser Parole die Frühjahrstagung im April eröffnet. Und diese simplify-Steilvorlage hat mir keine Ruhe gelassen.

Warum „simplify“ ein englisches Wort ist

Kann man das so einfach sagen: die Kirche vereinfachen? Natürlich kann man sich das wünschen. Dass es doch bitte einfacher werde, das ist ein großer Traum. Unsere Welt wird von den meisten Menschen als immer komplizierter empfunden. Das liegt wohl auch daran, dass wir immer mehr wissen. Tagtäglich erfahren wir von Ereignissen aus der ganzen Welt. Wir merken, dass alles mit allem zusammenhängt, und wir wünschen uns Vereinfachung. Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Wunsch ausgerechnet auf Englisch so populär geworden ist: „simplify your life“. Wir rufen ihn sicherheitshalber in der Weltsprache, damit ihn möglichst die ganze Welt versteht und beim Vereinfachen mitmacht.

Sogar die Präsidentin der bayerischen Synode hat es auf Englisch gesagt: Simplify your church. Das klang für mich erst einmal wie ein Seufzer. Unsere Kirche ist, schon rein organisatorisch, immer komplexer geworden. Wer in einer Kirchengemeinde mit Finanzen oder Baumaßnahmen zu tun hat und dadurch mit den verschiedenen Abteilungen der kirchlichen Verwaltung, der hat sicher oft gestöhnt: „simplify your church!“

„simplify your church“ könnte auch die Grundidee der Reformation gewesen sein: Re-Formation – zurück zur alten Form. Es soll wieder so einfach werden wie am Anfang: Jesus mit zwölf Jüngern. Zusammensitzen beim Essen. Sich versammeln zum Gebet. Alles miteinander teilen. Kranke heilen. Den Nächsten lieben, ja sogar den Feind. Da sein für andere.

Sich verschenken

Das hat Annekathrin Preidel in ihrer simplify-your-church-Rede klar gesagt: „Es könnte sein, dass wir erst dann wirklich zur Kirche Jesu Christi werden, wenn wir unsere Energie nicht nur in unsere Selbsterhaltung investieren. Sondern dass wir verschwenderisch überfließen und unsere Energie anderen zugutekommen lassen.“

Martin Luther hatte sich zu seiner Kirche durch die radikalen Gelübde eines Mönchs verpflichtet. Aber dann hat er vor 500 Jahren seine Kirche vereinfacht: Von sieben Sakramenten hat er vier gestrichen. Das hierarchische System von Pfarrern, Dekanen, Bischöfen, Erzbischöfen und Papst hat er abgelehnt. Ebenso die Ehelosigkeit der Priester, die Verpflichtung der Mönchsgelübde. Ja sogar die Autorität der studierten Theologen. Jeder Christ, jede Christin sollte die Bibel lesen und verstehen lernen. Jeder sollte Priester sein können: das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Für die Betroffenen war das keine Reformation, kein idyllisches Zurück zur Urkirche. Das war Revolution, Umsturz, Radikalismus, und so wurde denn auch ein mehrere Generationen dauernder, furchtbarer Konfessionskrieg daraus.

Warum Vereinfachen so schwer fällt

Vereinfachen kann ausgesprochen schmerzvoll sein. Vereinfachen besteht aus lauter Abschieden. Die Synodalpräsidentin hat sich in ihrer Eröffnungsrede eine Kirche gewünscht, „die sich darum bemüht, den einfachen Zugang zur Liebe Gottes freizulegen. Eine Kirche, deren Schwellen nicht zu hoch sind.“ Aber Barrieren wegzuräumen ist gar nicht so einfach, sagte sie weiter. Loslassen tut weh. Denn, und das ist eine wichtige Einsicht gerade für ältere Menschen, zu denen ich längst auch gehöre: „Je älter wir werden, desto eher neigen wir dazu, die gute alte Zeit zu verklären.“ So ging es auch mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Wie an einem Gummiband zog es die Gläubigen und die Priester immer wieder zurück in die alten Gewohnheiten, in die alten Hierarchien. Da muss sich Kirche immer wieder aufs Neue reformieren und vereinfachen und sich das allgemeine Priestertum zurückerobern.

Wie lässt sich Vereinfachung darstellen in der Musik? Mir ist dazu ein Stück in den Sinn gekommen, das mich schon lange begleitet: „Clair de lune“, Mondschein, der dritte Satz der „Suite bergamasque“ des französischen Komponisten Claude Debussy. Entstanden ist es 1890. Ich möchte es Ihnen in verschiedenen Versionen vorstellen – in der Reihenfolge, in der es mir begegnet ist. Das erste Mal habe ich es 1974 gehört, in der elektronischen Interpretation des japanischen Musikers Isao Tomita.

Gerade einmal 5 Jahre, bevor dieses Stück herauskam, war das Instrument erfunden worden, auf dem es gespielt wurde: der Synthesizer, eine Entwicklung des amerikanischen Elektrotechnikers Robert Moog. Ein hochkompliziertes Gerät, mit einer eindrucksvollen Tafel voller Drehregler, Stecker und wild durcheinander hängender Kabel. Oh je, was sind das für Klänge! Wie unnatürlich! So klagten damals viele in der Musikwelt. Isao Tomita hielt ihnen entgegen, dass solche Klänge keineswegs unnatürlich wären. Sondern dass Menschen schon seit Urzeiten elektrische Sounds hören: Das Krachen beim Blitz und das Beben des Donners sind elektrisch erzeugte Töne der Natur.

Warum „neu“ und „alt“ keine guten Etiketten sind

Das ist, finde ich, ein schönes Bild für das Ineinander von Reformation und Revolution. Was uns neu erscheint, hat häufig einen uralten Hintergrund. Und was wir als gewohnt und traditionell empfinden, ist oft gar nicht so altehrwürdig, wie es tut. „Simplify your church“, Reformation, geistliches Wachstum – das lässt sich nicht einordnen in die schlichten Kategorien von „neu“ oder „alt“. Vereinfachen kann gleichzeitig ein Weg zurück sein und ein Aufbruch in die Zukunft.

Heute ist im Kirchenjahr der 10. Sonntag nach Trinitatis. An diesem Tag denken wir Christen an das Volk, dem Jesus angehörte. Der Predigttext für den heutigen Israelsonntag stammt aus dem Buch Jesus Sirach. Man könnte ihn überschreiben mit „Der Traum von der ganz großen Reformation“.

Bring die Stämme der Nachkommen Jakobs wieder zusammen! Gib ihnen das Land wieder, das du ihnen am Anfang als Besitz zugeteilt hast! Hab Erbarmen mit dem Volk, das deinen Namen trägt, mit Israel, das du deinen erstgeborenen Sohn genannt hast! Hab Mitleid mit Jerusalem, der Stadt, in der dein Heiligtum steht und die du erwählt hast, um dort zu wohnen! Erfülle die Stadt Zions mit deinem Ruhm und deinen Tempel mit deiner Herrlichkeit! (Jesus Sirach 36, 13–19)

Einige Theologen finden es inzwischen falsch, vom „Alten“ und „Neuen“ Testament zu sprechen. Alt und Neu, Prophezeiung und Erfüllung, das sind – aus der Perspektive Gottes gesehen – unpassende Bezeichnungen. Das eine ist im anderen enthalten. Jesus war Jude, so ähnlich wie Martin Luther Katholik war. Und doch haben sie Neues geschaffen.

Dieser Traum von der ganz großen Reformation aus dem sogenannten Alten Testament wird am Ende des sogenannten Neuen Testaments noch einmal aufgenommen: Unsere Bibel endet mit einer großen Vision vom himmlischen Jerusalem. Ich finde es müßig, zu fragen, ob die Juden immer noch auf den erhofften Retter warten, und wir Christen nicht mehr. Nein, wir warten nach wie vor gemeinsam, und wir sind gleichermaßen erfüllt von der Gewissheit, dass er längst gekommen ist, in jeder und jedem von uns. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, sagte Jesus, es ist einfach mitten in euch.

Warum immer weniger Menschen in die Kirche gehen

Woran kann man überhaupt erkennen, ob der angekündigte Retter gekommen ist? An der Kirche, lautet die Antwort, an der sichtbaren Gemeinschaft der Christen. Aber wie sieht diese Kirche heute aus? In den Kirchengebäuden versammeln sich immer weniger Menschen, die Gottesdienste haben viel von ihrer früheren Anziehungskraft verloren. Selbst bei den großen Treffen wie Kirchentagen und Katholikentagen gehen die Zahlen zurück. Viele Menschen kündigen ihre Mitgliedschaft und verlassen ihre Kirche für immer. Doch trotz allem existieren die Kirchen. Sie sind eine große gesellschaftliche und religiöse Kraft, nach wie vor. Ganz offensichtlich lässt sich die Macht einer Gemeinschaft nicht so einfach in Besucher- oder Mitgliedszahlen messen.

Ich habe gelernt, dass ein Christ Gemeinschaft braucht. Zugleich habe ich erfahren, dass das menschlich-allzu-menschliche Miteinander in einer Gemeinde einen auch herunterziehen kann. Entscheidend ist für mich die Gemeinschaft mit Jesus Christus als innerem Meister geworden, und das geht einer großen Zahl von Christinnen und Christen auch so. Diese intensive innere Verbundenheit mit Jesus Christus nennt man Mystik. Diese mystische Vereinigung mit Gott ist für mich der innerste, tiefste Kern der Sehnsucht nach einer vereinfachten Kirche: eine Gemeinschaft von Menschen, die verbunden sind mit Jesus Christus, ob sie es laut bekennen oder nicht, ob es ihnen verstandesmäßig bewusst ist oder ob sie es tief in ihrem Innersten zart spüren.

Die mystische Gemeinschaft der Christen

In dieser Herzenskirche spielen Konfessionen längst keine Rolle mehr. Hier geht es nicht mehr um Dogmen und Glaubensfragen, sondern um Liebe und Verbundenheit. Ein Gefühl, das mich erinnert an meine Suche nach dem Woher der zauberhaften Musik, die durch Isao Tomitas Synthesizerklänge an mein Herz gedrungen war. Auf dem Umweg über dieses elektronische Gezirpe kam ich auf die modernere klassische Musik, und ich bekam heraus, dass „clair de lune“ eigentlich für ganz andere Instrumente geschrieben worden war.

Ich empfand die gewohnten Klänge der Orchesterinstrumente nicht unbedingt als schöner oder besser als die Synthesizer-Sounds. Aber irgendwie klangen sie einfacher, und darin lag für mich eine neue Stufe der Qualität. Doch wie einfach ist ein Orchester? Es ist eine hochkomplexe Organisation, ein Miteinander vieler einzelner Musiker, von denen jeder eine lange und aufwendige Ausbildung durchlaufen hat. Jedes einzelne Instrument ist kompliziert zu bauen und zu spielen, und trotzdem ergreift das Resultat, dass ich am Ende höre, mein Herz auf eine herrlich einfache Weise.

Warum es keine wirkliche Einfachheit gibt

So ist es auch mit dem Traum von der Einfachheit. Es gibt sie nicht, niemals. Diese Welt ist nicht einfach. Unser Körper ist nicht einfach. Er ist ein unvorstellbar komplexes Ineinander von Billionen von Zellen, Millionen mal Millionen. Jede einzelne dieser enormen Zahl von Zellen ist ein Lebewesen für sich, bestehend aus Billionen von Molekülen, in dem komplizierteste Regelkreise ablaufen, hunderte in jeder Sekunde. Im Darm jedes Menschen leben mehr selbstständige Lebewesen, als es Menschen auf der Erde gibt. Jeder Körper eines Menschen oder eines Säugetiers ist gleichsam ein Planet für sich.

Und jeder davon organisiert sich selbst, in einem bis heute gerade einmal ansatzweise erforschten System. Ganz besonders komplex ist unser Gehirn, das so gerne von der Einfachheit schwärmt. Zu den überraschendsten Entdeckungen der Gehirnforschung in den letzten Jahrzehnten gehört die Einsicht, dass es in diesem Gehirn keine Zentrale gibt. Es finden sich dort unzählige Regelkreise, aber jeder Nerv, jede Zelle, organisiert sich gleichzeitig auch selbst. Jeder Zellverbund, jedes Organ, ist gleichzeitig selbstständig und von anderen beeinflusst.

Schon der Apostel Paulus hat dieses erstaunliche Zusammenspiel der Teile unseres Körpers als Gleichnis gesehen für die Gemeinschaft der Christen: „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht.“ Er fasst das zusammen in einem wunderbaren Bild: Gemeinsam, sagt er, sind wir der Körper Christi. Seit er nicht mehr auf der Erde ist, sind wir er.

Nein, liebe Hörerinnen und Hörer, eine wirklich einfache Kirche wird es nie geben. Es wird immer in ihr menscheln. Es wird immer Diskussionen geben, Spaltungen und Kooperationen, Streit und Versöhnung, und Kompromisse. Immer wieder träumen Christen von einer starken einheitlichen Kirche mit straffer zentraler Leitung. Aber sobald sich jemand als so ein zentraler Leiter aufspielt, gibt es heftigste Proteste. Kirche bleibt ein lebendiger, sich verändernder und ständig gefährdeter Organismus, und gerade dadurch ist er der Körper Christi.

Auf die Richtung kommt es an

Also Abschied nehmen von der Idee „simplify your church“? Nein. Mir ist der Untertitel meines simplify-Buchs immer wichtiger geworden. Er lautet: „Einfacher und glücklicher leben.“ Es gibt keine endgültige Einfachheit, kein vollkommenes Glück. Es kommt auf die Richtung an, auf die Bewegung hin zu Einfachheit und Glück: Es soll nicht noch komplizierter werden, sondern einfacher. Es soll nicht unglücklicher, schmerzhafter und leidender zugehen bei den Menschen, sondern glücklicher, leichter. Im Vereinfachen geht nichts verloren, im Gegenteil. Es wird verdichtet, konzentriert, das Wichtige wird klarer. Wir werden lernen müssen, Verschiedenheit auszuhalten, auch mitten in unseren Kirchen. Doch wir sind dabei unterwegs auf einem Weg, bei dem sich viele wunderbare Entdeckungen machen lassen.

Auf meiner Entdeckungsreise zu Claude Debussy fand ich heraus, dass „clair de lune“ noch viel einfacher war, als ich dachte. Debussy hat es gar nicht für ein Orchester geschrieben, sondern als Klavierstück für einen einzelnen Musiker. Manchmal besteht es nur aus einem einzelnen Ton, gespielt mit einem einzigen Finger, der einen als Zuhörer bezaubert.

 

Was mir mit dem Mondscheinlied passiert ist, habe ich während meines Lebens auch mit dem Glauben erlebt: Er ist immer einfacher geworden. Am Anfang habe ich die vielen Außenseiten des Glaubens gesehen: Gottesdienst, Abendmahl, Konfirmation, Lieder, Gebete, biblische Geschichten, Rituale, Treffen, Feste, Institutionen, Hilfswerke, Organisationen, Spenden. Später, als Theologiestudent und Pfarrer all die philosophischen Hintergründe, die Lehre vom Opfertod Christi, von der Sündhaftigkeit des erlösungsbedürftigen Menschen, von der Dreieinigkeit, von den Konfessionen, dem Amtsverständnis, und was nicht noch alles.

Die Grundmelodie unseres Glaubens

Vieles davon ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Geblieben aber ist eine zu Herzen gehende, unverwechselbare Melodie. Das Lied von der Stärke der Liebe, von der Macht der Machtlosigkeit, von der Menschlichkeit Gottes. Das ist es, was uns verbindet, bei aller Verschiedenheit. Seit es Christen und Kirchen gibt, haben sie versucht, das Verbindende zu formulieren. Glaubensbekenntnisse sind daraus entstanden, um jede Formulierung darin wurde lange gerungen. Doch mich hat das Glaubensbekenntnis immer merkwürdig kalt gelassen. Was verbindet uns Christen emotional, was berührt gemeinsam unsere Herzen? Der Menschensohn Jesus natürlich. Er verbindet uns, aber nicht die Rede über ihn, sondern was er selbst gesagt hat. Am einfachsten zusammengefasst finde ich es in dem Gebet, das er uns hinterlassen hat, das Vaterunser. Dort ist nicht die Rede von Opfer oder Sünde, von Buße oder Zwang, sondern von Brot, Vergebung, Kraft.

Es gibt einen simplify-Gottesdienst, der sich schon lange bewährt. Er enthält eine Ansprache, Musik, aber fast keine Liturgie. Nur eben dieses Vaterunser, und einen kurzen Segen am Ende. Dieser simplify-Gottesdienst benötigt kein spezielles Gebäude, und seit Jahrzehnten ist er der bestbesuchte Gottesdienst in Bayern und weit darüber hinaus. Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, nehmen in diesem Augenblick daran teil. Die Evangelische und die Katholische Morgenfeier hat, so das Ergebnis der jüngsten Media-Analyse, gut 1 Million Hörer. Mehr als sich in allen Kirchengebäuden Deutschlands an diesem Sonntagvormittag versammeln. Auch Sie, wir alle, sind Kirche Jesu Christi. Wir sind verbunden, in diesem Moment.

Es gibt noch einen Grund, warum ich Debussys Musik über den Mond als Soundtrack zum Thema Vereinfachung ausgesucht habe. Der Mond ist eine dunkelgraue Kugel. Er leuchtet nicht, sondern er wird beleuchtet. Seine dunkle Oberfläche genügt, um ein mildes, zutiefst berührendes Licht auf unsere Erde zu senden. Denn die Sonne, die ihn bestrahlt, hat enorm viel Energie.

Auch die Kirche ist meist nicht so hell, wie sie gern wäre. Aber sie wird von einem riesigen, überhellen Licht beschienen, und das lässt sie wundervoll strahlen. Das hat sie gemeinsam mit uns Menschen.

 

09.04.2016

Terror und Medien

Es geschah nicht erst 9/11 im Jahr 2001, sondern schon 1993: Al Qaida versuchte, mit einem Laster voll Sprengstoff das World Trade Center zu sprengen. Es gab 6 Tote und über 1.000 Verletzte. 8 Jahre später kam die (vergleichsweise kleine) rote Terrorgruppe drauf, dass sie die technischen Errungenschaften einer orange-grünen Hochindustriegesellschaft nicht kaufen muss, sondern kidnappen kann. Mit mehreren gekaperten Jets (die sich die Terroristen nie hätten leisten können) vollführten sie den schrecklichen Anschlag vom 11. September 2001.

Daraufhin hat sich die westliche Gesellschaft verändert. Die USA sind von einem tendenziell locker-freiheitlichen Staat zu einem verbissenen Hochsicherheitstrakt geworden. Weltweit werden enorme Anstrengungen unternommen, damit sich Terroristen nie wieder unserer technischen Mittel bedienen können.

Und jetzt? Wieder kapern Terroristen unsere Technik. Statt der milliardenschweren, streng bewachten Flugindustrie benutzen sie eine noch wertvollere Industrie, die nicht nur unbewacht zur Verfügung steht, sondern sogar zum Gekapertwerden einlädt: unsere Medien. Oder, präziser: unsere Aufmerksamkeit.

Der Philosoph Thomas R. Wells ist Dozent in Leiden und Witten-Herdecke. Er rät in seinem Blog „The Philosopher’s Beard“, einmal nach dem vernünftigen Zweck von Terrorismus zu fragen. Unsere simplen psychologischen Erklärungsversuche, meint er, verwandeln tragische Ereignisse in interessante TV-Events und verschaffen ein paar Verwirrten eine Aufmerksamkeit, die sie eigentlich nicht verdient haben.

Hier ein sehr bedenkenswerter Artikel dazu:

http://www.philosophersbeard.org/2016/03/what-terrorists-want-and-how-to-stop.html

Im Wesentlichen sieht Wells drei Ziele, die dem Terrorismus helfen, die entsprechenden Zielgruppen zu erreichen: 

1. Suche nach Aufmerksamkeit: Die globale Medienindustrie wird gehijackt. Vielen Terrorgruppen geht es einfach darum, die Aufmerksamkeit eines demokratischen Gemeinwesens zu bekommen. Der Trick: Sie kapern die Medien einer Gesellschaft, und zwar mit einem unwiderstehlichen Schauspiel. 

2. Erpressung: Eine Terrorgruppe macht ein wesentliches Versprechen einer Regierung zunichte: die Garantie, dass die Bürger frei sind von politischer Gewalt. 

3. Provokationen: ISIS ist keine Bedrohung für Frankreich oder Belgien, ganz zu schweigen von Europa, den USA oder der westlichen Welt. ISIS bedroht lediglich die subjektiven Empfindungen der Bürger dieser Länder. Das ist nicht nichts. Aber indem die Bürger nach jedem Terroranschlag ihre Regierungen anflehen „Tut doch endlich etwas!“, fallen sie auf die Strategie der Terroristen herein. Das ist das Ziel jeder terroristischen Gruppe. Sie wetten auf eine übertriebene Reaktion des Angegriffenen. Sie wetten auf eine Erschütterung des status quo. 

Unsere Demokratie ist verletzlich, aber kraftvoll. Gut funktionierende Demokratien finden einen Weg, um Minderheiten in demokratische Prozesse einzubinden. Sie sorgen dafür, dass die Rechte von Minderheiten (etwa ihre Sprache) anerkannt werden von der Mehrheit. Demokratien sind in Sachen Gerechtigkeit ziemlich gut, zumindest im Vergleich zu Autokratien wie Saudi-Arabien oder Russland, wo die Mehrheit der Bevölkerung entrechtet wird.

Die Schwäche der Demokratie war immer, dass die öffentliche Meinung gesteuert werden kann vom Mob und der kollektiven Dummheit. Aber Demokratien haben auch Stärken, durch die sie sich so gut entwickelt und die anderen Regierungsformen in den vergangenen 200 Jahren überrundet haben. Die Stärke einer demokratischen Gesellschaft liegt in ihrer Fähigkeit zum kollektiven Denken. Sie kann öffentlich diskutieren und aus Fehlern lernen. Sie agiert und reagiert nicht nur, sondern reflektiert auch ihr Handeln. Regierungen sollten auf dieses Reflektionsvermögen setzen und ihr Handeln nicht nur an den kollektiven dumpfen Emotionen ausrichten. Terroristen wetten auf die Schwäche der Demokratie. Um sie zu schlagen, müssen wir ihre Stärke demonstrieren.

 

04.02.2013

Die Sache mit den Mayas haben wir überstanden – aber das Reden vom baldigen Untergang findet sich überall. Besonders häufig bei einer ganz bestimmten Art von Menschen.

Vor ein paar Wochen war ich auf einem Treffen von hauptsächlich älteren Geschäftsleuten, fast alle männlich. In der Mittagspause saß neben mir ein etwa 40jähriger Ingenieur, der mir seine Beobachtungen während dieser Tagung erzählte: Je älter einer sei, so seine Erfahrung, umso schwärzer sei dessen Sicht von der Zukunft. Mir gegenüber saß ein 70jähriger Rechtsanwalt, der nicht gehört hatte, was der jüngere mir erzählt hatte. Ohne dass ich ihn gefragt hätte, versorgte mich mein Gegenüber ausführlich mit seiner Meinung über unsere Welt: Den Euro würde es höchstens noch bis Jahresende geben; die Regierungen seien alle unterwandert vom Geheimbund der Illuminaten; die Klimakatastrophe würde zu einem Massensterben in allen Küstengebieten führen; Eruptionen der Sonne bringen bald den Ausfall aller elektronischen Systeme; die Folge sind Stromausfälle, Wassermangel, Bürgerkriege um Grundnahrungsmittel. Entsetzliche Aussichten liegen vor uns. Zwei Kollegen des Juristen, beide ebenfalls über 70, zogen ihre Stühle heran und bestätigten seine Thesen. Ich hoffte, ich wäre in eine „Verstehen Sie Spaß?“-Sendung hineingeraten, aber es war real.

Die Lust am Weltuntergang – vielleicht ist das wirklich eine typische Marotte alter Männer. Sir Isaac Newton, ein genialer Wissenschaftler, ausgezeichnet mit allen Ehrungen seiner Zeit, beschäftigte sich in den letzten Jahren seines Lebens mit düstersten Weltuntergangstheorien. Der Blick trübt sich im Alter, überall am eigenen Körper tut es weh, das Gehen, das Atmen, oft sogar das Denken wird mühsam, und wenn man die Schmerzen des eigenen kleinen Lebens wiederfindet im gigantischen Uhrwerk der universalen Weltgeschichte – vielleicht tut es einem dann selbst weniger weh? Denn das Weggehen von dieser Welt ist ein Schmerz.

Aber muss man das verbinden mit finsteren Gedanken über das Ende der Welt? Nein, habe ich mir immer wieder trotzig gesagt, meine Weltsicht ist das nicht. Und im Alter will ich schon gar nicht so werden. Warum? Vielleicht, weil ich als Kind eine Art Schutzimpfung dagegen erhalten habe. Ich erinnere mich noch gut: Ich konnte gerade lesen, da war ich mit meinem großen Bruder am Münchner Hauptbahnhof und las voller Entsetzen die Schlagzeile vom 8-Uhr-Blatt, der damals führenden Boulevardzeitung der Stadt. In riesigen Buchstaben stand da: „Morgen geht die Welt unter“. Ich staunte, wie ruhig mein Bruder blieb. „Das stimmt nicht“, sagte er. Aber wie konnte er das wissen? Es stand doch in der Zeitung! Den folgenden Tag habe ich voller Angst verbracht. Ich habe alle möglichen Leute nach dem Weltuntergang gefragt, aber viele wussten gar nichts davon oder taten es ab. Als ich am nächsten Morgen unversehrt aufgewacht bin, war ich unglaublich erleichtert, aber auch sehr ernüchtert.

 

Das war nicht der einzige Weltuntergang, an den ich mich erinnere. Als Teenager las ich die alarmierenden Berichte des „Club of Rome“. Ich war schockiert über deren Forschungsergebnisse: Dass der Menschheit bald die Nahrung ausgehen würde, die Energie, das Wasser. Wenig später kam die erbitterte Debatte um die atomare Aufrüstung. Pershing-Raketen in Deutschland, wir bekamen einen dritten Weltkrieg vor Augen gemalt, der uns noch viel schneller vernichten würde als alle Umweltkatastrophen.

 

Und jetzt sitze ich hier, lebendig und gesund, im Frieden, in einem komfortablen Land mit hochproduktiven Unternehmen, die in der ganzen Welt berühmt sind, mit enormen Errungenschaften in der Technik, der Landwirtschaft, der Ökologie und der regenerativen Energien – und höre weiter vom Weltuntergang und von großen Fantasien, dass die Welt permanent „gerettet“ werden müsse.

Was ist das? Ist es vielleicht ein verschrobenes menschliches Bedürfnis, am Rande der ganz großen Megakatastrophe zu leben? Den eigenen kleinen Tod, der irgendwann zwangsläufig droht, aufzuwerten mit dem riesigen Tod von allem, nach dem Motto „Nach mir, da kommt nicht mehr viel. Nach mir ist alles aus“?

Verständlich wäre das. Es tut weh, für immer von hier wegzuziehen und zu ahnen: Es wird auch ohne mich weitergehen. Es ist erstaunlich, was für apokalyptische Phantasien in den fröhlichsten Zeitgenossen stecken können.

Viele Menschen halten Apokalyptik für etwas Religiöses. Weltende, davon ist doch auch in der Bibel die Rede, sagen sie. Am Schluss des Alten Testaments stehen die Aufzeichnungen der Propheten, lange Reden über Zerstörung und Verwüstung, wilde Visionen. Am Ende des Neuen Testaments gibt es ein ganzes Buch, das so heißt: die Apokalypse des Johannes. Eine erschütternde Fülle von bizarren Traumbildern, Engel mit flammenden Schwertern und düstere Tiere aus dem Abgrund, himmlische Heere, brennende Bücher.

So hat man es in der Erinnerung. Aber wie immer beim Umgang mit der Bibel lohnt es sich, sie selbst tatsächlich und buchstäblich zu lesen und sich nicht auf die vage Erinnerung zu verlassen. Eine Vision über das Ende, doch sie fällt ganz anders aus als erwartet.

Die Steppe soll sich freuen, das dürre Land glücklich sein, die Wüste jubeln und blühen! Mit Blumen soll sie sich bedecken, jauchzen und vor Freude schreien!

Macht die erschlafften Hände wieder stark, die zitternden Knie wieder fest! Ruft den verzagten Herzen zu: „Fasst wieder Mut! Habt keine Angst! Dort kommt euer Gott! Er selber kommt, er will euch befreien; er übt Vergeltung an euren Feinden.“

Dann können die Blinden wieder sehen und die Tauben wieder hören. Dann springt der Gelähmte wie ein Hirsch und der Stumme jubelt vor Freude.

In der Wüste brechen Quellen auf und Bäche ergießen sich durch die Steppe. Der glühende Sand verwandelt sich zum Teich und im dürren Land sprudeln Wasserquellen. Wo jetzt Schakale ihr Lager haben, werden dann Schilf und Riedgras wachsen.

Eine feste Straße wird dort sein, den „heiligen Weg“ wird man sie nennen. Wer unrein ist, darf sie nicht betreten, nur für das Volk des Herrn ist sie bestimmt. Selbst Unkundige finden den Weg, sie werden dort nicht irregehen. Auf dieser Straße gibt es keine Löwen, kein Raubtier ist auf ihr zu finden; nur die geretteten Menschen gehen dort.

Sie, die der Herr befreit hat, kehren heim; voll Jubel kommen sie zum Berg Zion. Aus ihren Augen strahlt grenzenloses Glück. Freude und Wonne bleiben bei ihnen, Sorgen und Seufzen sind für immer vorbei.

(Jesaja 35, 3-10)

Wer versucht, die Religion einzuspannen für seine Zwecke in Sachen Endzeit, der sollte sich an biblische Texte wie diesen erinnern. Jesus hat ihn gekannt und, davon darf man wohl ausgehen, geliebt. „Blinde sehen, Gelähmte gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören.“ Das hat Jesus den Menschen ausrichten lassen, als sie ihn fragten, ob er der erwartete Retter ist, oder ob sie auf einen anderen warten sollen. Jetzt hat sich diese Zeit erfüllt, will er damit sagen. Immer wieder hält er Ansprachen über die Befreiung. „Fasst wieder Mut, habt keine Angst“ ist eine Grundmelodie seiner Reden. „Fürchtet euch nicht“ ist nicht nur bei Jesus der typische Gruß, wenn Göttliches den Menschen begegnet. „Die Liebe treibt die Furcht aus“, heißt es später im Johannesbrief, und was für eine Weisheit steckt in diesem kleinen Satz!

 

Wenn ein Mensch einem anderen hilft, tut er das aus Liebe, und nicht weil er Angst hat vor Strafe. Wenn Menschen Gutes tun für die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, tun sie das aus Liebe zum Leben, und nicht aus Angst vor dem Untergang.

Das ist die Apokalyptik, die Enthüllung: Gott kommt. Er selbst will uns befreien. Auf einer heiligen Straße ohne Raubtiere wird er zu uns reisen, auf ganz unspektakuläre Weise wird er geboren werden, von einer Frau, wie wir alle. Als Säugling in einem improvisierten Kinderbettchen wird er liegen.

„Fürchtet euch nicht!“: Worte wie diese sind die Schutzimpfung gegen die düsteren Endzeitfantasien und Pauschaleinschätzungen, die uns allzu leicht über die Lippen kommen. In unserer weltlichen Gesellschaft tritt der Begriff „Natur“ häufig an die Stelle Gottes, und der Natur werden dann Eigenschaften zugeschrieben, die halbwegs aufgeklärte Christen längst nicht mehr mit ihrem Gott verbinden würden. „Die Natur rächt sich“ heißt es zum Beispiel nach Naturkatastrophen. Aber die Natur rächt sich nicht. Das ist eine menschliche Idee. Über einen Gott, der sich zornig an den Menschen rächt, sind wir längst hinaus, spätestens seit dem wunderbaren Erscheinen Gottes als Mensch mitten unter uns Menschen. Aber in einem wirren Glauben an „die Natur“ feiern archaische Gottesbilder fröhliche Urständ.

„Werte zerfallen“ sagen viele. Aber Werte können das gar nicht. Sie verwandeln sich, und das wirkt anfangs immer bedrohlich. Aber unsere Werte müssen sich verbessern und verfeinern. Wir brauchen zum Beispiel eine ganz neue, weitherzigere Form von Toleranz, um mit Menschen aus anderen Religionen und Kulturen friedlich und freundlich zusammenzuleben.

 

Viele negative Einschätzungen gehen den Menschen allzu leicht über die Lippen, etwa die Rede von der „wachsenden Gewalt“. Gewaltverbrechen jeder Art aber gehen seit Jahrzehnten zurück. Selbst wenn das nicht so wäre – schon die dauernde Rede vom Anwachsen des Negativen ist schädlich. Denn die Angst vor Gefahren kann reale Gefahren erzeugen. Wer etwa von der „wachsenden Kluft zwischen arm und reich“ spricht, treibt eines Tages die vermeintlich Armen auf die Straße zur Gewalt gegen die vermeintlich Reichen. Es ist eine kindliche Vorstellung, dass Reiche den Armen etwas wegnehmen. Bisher war eher das Gegenteil der Fall, sagt der schwedische Wirtschaftsstatistiker Hans Rosling. Wo es viele reiche Menschen gibt, steigt der Wohlstand für alle. Oder, umgekehrt: Wenn der Wohlstand in einem Land wächst, dann werden einige immer extrem reich. Das muss Politik dann korrigieren und Geld umverteilen von den Reichen an die Armen. Das geschieht in vielen Ländern, auch in unserem, und man muss das klug dosieren, sonst gedeihen Korruption, Apathie und Verzweiflung. Wir müssen weiter kämpfen gegen absurde Auswüchse des Kapitalismus und ein wild gewordenes Finanzsystem. Aber Angst und Endzeitfantasien sind niemals eine Lösung. Sie können sogar gefährlich werden.

Denn: Angst ist nicht nur ein Gefühl. Sie kann verheerende Auswirkungen haben auf Wirtschaftssysteme und das ganz reale Leben von Menschen. Jeder Banker in Deutschland erinnert sich an das letzte Oktoberwochenende 2008. Nach der spektakulären Pleite der mächtigen US-Bank Lehman Brothers waren die Deutschen kurz davor, am Montag die Banken zu stürmen und ihr Geld abzuheben. Das wäre der Zusammenbruch des deutschen Geldsystems gewesen. Ein kurzer Satz der Bundeskanzlerin hat damals das System gerettet. Ein Satz, in dem das Wort Angst nicht vorkam, sondern das Wort Sicherheit.

Nein, Warnen und Angstmachen kann verheerende Folgen haben, und deshalb gehören wir Christen nicht auf der Seite der Warner und Angstmacher, sondern auf der Seite derer, die ermutigen und stärken.

 

 

29.07.2012

Was darf jemand tun? Was darf er keinesfalls tun? Darf man ein kleines Kind beschneiden lassen? Wie muss man sich nach einem Fehler verhalten?

Es geht um viel, heißt es in jeder Diskussion. Es geht um die Fundamente der Kultur, des Staates, ja des Menschseins. Wir sind umgeben von Gesetzen und Regeln, von Menschenrechten und Bürgerpflichten, von Höflichkeitsformen und Tabus. Das alles sind die wichtigen Fragen der Moral, und es ist ein ernstes Thema. Doch: Nach einiger Zeit hängt es einem zum Hals heraus.

Es gibt dieses typische Gefühl von Überdruss, wenn Bischöfe oder Politiker ans Rednerpult treten und man schon vorher weiß: Wahrscheinlich wird mich kein einziger Satz, der jetzt folgt, überraschen. Dieses Gefühl gibt es bei Predigten und bei politischen Reden, bei Verlautbarungen und Grundsatzreferaten, ganz gleich welcher Richtung, ob links oder rechts, grün oder rot, kirchlich oder weltlich.

Hier ein paar Sätze, wortwörtlich aus Pressemeldungen zitiert:
„Der Papst verurteilte in seiner Botschaft den Hass und setzte sich für den Frieden ein.“
„Die Teilnehmer der Konferenz ermahnten dazu, die Armut in Zukunft stärker zu bekämpfen.“
„Der Bischof sprach sich gegen den Extremismus aus.“

Neulich habe ich ein schönes Wort dafür gelesen: „Trivialmoral“. Schon Oscar Wilde hat darüber gespottet: „Nichts hat im modernen Leben eine solche Wirkung wie eine gute Banalität.“

Ich vermute: Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen haben es zurzeit so schwer, weil sie in die Sackgasse der moralischen Langeweile geraten sind. Ihre Aussagen sind so vorhersehbar – und zugleich so kraftlos. Unter der gleichen Problematik leiden die politischen Parteien, und manchmal ist es schon fast kurios zu beobachten, wie Kirchenführer und Politiker offenbar beschlossen haben, mit erhobenen Zeigefingern und mahnenden Worten gemeinsam unterzugehen.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass Werte eingefordert werden und korrektes Verhalten, Verantwortung gegenüber den Schwachen, Ehrfurcht gegenüber der Schöpfung, soziale Gerechtigkeit und persönliches Engagement. Das ist alles richtig. Aber, und das halte ich für eine ganz wichtige Frage: Ist das wirklich die Aufgabe der Religion?

Ist Religion wirklich nur Moral? Ist Religion nicht „eine eigene Provinz des Geistes?“ So hat es ein evangelischer Theologe formuliert, der vor 200 Jahren in Berlin Furore gemacht hat: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.

Ich hatte im Studium ein paar seiner Reden gelesen. Sie bestehen aus langen, gedrechselten Sätzen, durchdrungen vom Geist der späten Klassik und der frühen Romantik. Jetzt habe ich sie noch einmal hervorgeholt und war erstaunt, wie sehr mich seine Ideen ergriffen haben.

Wahrscheinlich, weil sich die Situation von 1799 und unsere aktuelle Lage durchaus ähneln: Damals wie heute gibt es auf der einen Seite die ganz nüchternen Menschen. Sie sind dem Geist der Aufklärung und der Wissenschaft verpflichtet. Sie sehen den Sinn des Lebens in dem, was man real berechnen kann und bewerten. Auf der anderen Seite gibt es die Geistesmenschen. Sie streben enthusiastisch nach hohen Idealen. Heute sagt man zu den einen Technokraten und zu den anderen Esoteriker.

Einig waren und sind sich diese beiden Gruppen in der Ablehnung von Religion. Für die aufgeklärten, diesseitigen, den Fakten zugewandten Menschen ist Religion ein Überbleibsel aus dem dunklen Mittelalter. Für die anderen dagegen, die sich den Sphären des Universums öffnen, für sie bedeutet Religion, den Geist einzusperren in die Mauern bestimmter Gottesvorstellungen, sich bevormunden zu lassen von Religionsführern und alten Ritualen.

Sogar bei Christen ist „Religion“ ein zwiespältiger Begriff. Er klingt nach Aberglauben, nach Gefühlsduselei. Es ist nicht unbedingt ein Lob, wenn über jemanden gesagt wird, er sei ein „sehr religiöser“ Mensch.

Schleiermacher hat fünf berühmte „Reden über die Religion“ geschrieben. Reden, die er nie gehalten hat, obwohl er ansonsten ein gefeierter Redner war. Der Untertitel seiner Reden über die Religion ist sein Programm: Er wendet sich „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“.

Er stimmt dabei kein Klagelied an über den Untergang der Religion. Im Gegenteil. Er empfindet es als etwas, dem der Mensch gar nicht ausweichen kann:

„Dass ich rede“, schreibt er, „rührt nicht aus einem vernünftigen Entschluss, auch nicht aus Hoffnung oder aus Furcht, es geschieht nicht zu einem Zweck. Sondern es ist die innere, unwiderstehliche Notwendigkeit meiner Natur. Es ist eine göttliche Berufung. Es ist das, was meine Stelle im Universum bestimmt und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin.“

Religion will nicht das Universum erklären, wie das die Philosophie tut. Religion will nicht den Menschen fortbilden und vollkommen machen, so wie es die Moral will. In den Reden „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ heißt es: „Das Wesen der Religion ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum. In seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“

Zu den berühmtesten Stellen in Schleiermachers Reden zählen die folgenden Sätze: „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ „Anschauen des Universums, ich bitte euch, befreundet euch mit diesem Begriff. Er ist der Angelpunkt meiner ganzen Rede. Er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion. Alles Anschauen geht aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden.“ „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen hinnehmen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen sehen, das ist Religion.“

Anschauung und Gefühl. Still werden und staunen. Die Welt nicht sehen als ein von Regeln und ewigen Gesetzen gesteuertes Werk, sondern als Spiel, als Poesie, als Musik und Tanz. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt des Glaubens und der Religion, der in der letzten Zeit eindeutig zu kurz kommt.

Religion wurde immer wieder missbraucht: für Kriege und politische Zwecke. Und sie hat sich dafür oft mit gehöriger Begeisterung missbrauchen lassen. So werden auch die Moral und die guten Regeln des Zusammenlebens immer wieder missbraucht für irgendwelche miesen kleinen Absichten.

Wer lautstark über Werte spricht, übersieht gern, dass es auch den Wert der Toleranz gibt. Dass Barmherzigkeit und Vergebung lebensnotwendig sind für jede menschliche Gemeinschaft. Dass auch Gelassenheit und Humor lebenswichtige Werte sind. Dass die wirkliche, volle Wahrheit nie erkennbar ist ohne Gnade und Liebe.

Das Geheimnis unseres Glaubens lässt sich nicht in Stein meißeln. Es bleibt eine lebendige, dynamische Wahrheit. Die Botschaft Jesu ist, wenn man in den Evangelien liest, immer wieder erstaunlich anders.

Noch einmal die Pressemeldungen vom Anfang:
Der Papst verurteilte in seiner Botschaft den Hass und setzte sich für den Frieden ein.

Verglichen mit Matthäus 10, Vers 34, formuliert im Nachrichtendeutsch:
Jesus verurteilte den Glauben an Frieden und betonte die Notwendigkeit des Schwertes.

Die Originalpressemeldung:
Die Teilnehmer der Konferenz ermahnten dazu, die Armut in Zukunft stärker zu bekämpfen.

Im Vergleich dazu Johannes 12, Vers 8:
Jesus unterstrich in Betanien den Wert der Armut und erteilte dem Wunsch, sie jemals endgültig bekämpfen zu können, eine Absage.

Die Pressemeldung:
Der Bischof sprach sich gegen den Extremismus aus.

Dazu das Neue Testament:
Der 30-jährige Wanderprediger rief dazu auf, ihm auf seinem Weg zu folgen, auch wenn das bedeute, sein Leben dabei zu verlieren.

Das wirkt so, als hätte sich Jesus – bei allem Ernst – an das berühmte erste Gebot der Unterhaltung gehalten, das der Filmregisseur Billy Wilder genial einfach formuliert hat: „Du sollst nicht langweilen.“

 

27.02.2011

Die aktuellen Ereignisse in Tunesien, Ägypten und Libyen zeigen einen klaren Kampf von orangem Bewusstsein gegenüber verkrusteten blauen Strukturen. Orange braucht dabei Mut, um gegen die von Blau geschürte Angst zu kämpfen. Ich habe mir ein paar Gedanken über die Zusammenhänge von Angst und dem Stufenwechsel gemacht.

Angst+Stufen.pdf

 

27.01.2011

Vortrag in Landshut über Gott 9.0 - der Saal ist überfüllt. Am Schluss steht einer auf und sagt: "Ich möchte über dieses Buch weiter sprechen! Darum gründe ich einen Gesprächskreis darüber. Wer mitmachen will, kommt bitte am Schluss auf mich zu!" Wenn Sie sich in Ihrem Umkreis mit anderen Gott 9.0-Leserinnen und -Lesern treffen wollen, mailen Sie uns. Dann fädeln wir hier gern eine Kontaktstelle für Sie ein.

 

27.11.2010

Schon wieder eine Rundfunksendung von mir zum Thema Gott 9.0, diesmal zum Thema "Du". Anhand des Advents- und Weihnachtsgeschehens beschäftige ich mich mit der reizvollen Frage, warum wir zu Gott "du" sagen (warum nicht "Vater unser, der Sie sind im Himmel ...") und ob Gott überhaupt ein Gegenüber ist. Also die Frage, die im Buch im Kapitel über die "Drei Gesichter Gottes" behandelt werden.

Du.pdf

 

16.11.2010

Meine letzten Rundfunkpredigten in Radio Bayern 1 drehten sich, natürlich, um die in unserem Buch Gott 9.0 vorgestellten Themen.

Am 6. Juni 2010 habe ich mir grundsätzliche Gedanken gemacht über das Thema "Entwicklungsstufen" und habe es entlang des berühmten Gedichts "Stufen" von Hermann Hesse aufgezogen:

Stufen.pdf

Am 12. September 2010 ging es um die faszinierende Einsicht der GELBEN Bewusstseinsstufe, dass es mehrere Wahrheiten gleichzeitig gibt.

Gegensatze.pdf

Am 24. Oktober 2010 bin ich noch einen Schritt weiter gegangen und habe mir Gedanken darüber gemacht, was dieses GELBE Aushalten von Paradoxien mit unserem klassischen Wahrheitsbegriff macht.

Wahrheit.pdf

 

15.11.2010

Es gibt eine hochinteressante Studie der Düsseldorfer Identity Foundation in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim zum Thema „Spiritualität in Deutschland“. Die Befragung wurde im März 2006 von der GfK Marktforschung auf der Basis von eintausend persönlichen Interviews durchgeführt. Das Ergebnis der Studie lässt sich (stark vereinfacht) mit unserem Gott 9.0-Modell ungefähr so ausdrücken:

10 bis 15 % der Deutschen können gelten als Spirituelle Sinnsucher (mit einem Schwerpunkt in GELB)

ca. 35 % sind Religiös Kreative (Schwerpunkt in GRÜN)

ca. 40 % Unbekümmerte Alltags-Pragmatiker (Schwerpunkt in ORANGE)

ca. 10 % Traditions-Christen (Schwerpunkt in BLAU)

Hier eine Zusammenfassung der Studie:

http://identity-foundation.de/images/stories/downloads/PM_Lang_Studie_Spiritualitaet.pdf