Marion Küstenmacher

01.09. 2018

Zu meinem neuesten Buch Integrales Christentum hat Sandra Hauser, eine junge Theologin, ein Interview mit mir für ihren Blog https://integrales-christsein.blog/ geführt.

Frau Küstenmacher, Sie schildern in Ihrer Einleitung Ihre erste Begegnung mit Ken Wilbers Schrift „Eros, Kosmos, Logos“ in einer schweren Krise und nennen es Ihren „Heilungsweg“ und eine „Auferstehung“. Was genau war es in diesem Buch, was Sie derart zu trösten vermocht hat?

Wenn ich mein Exemplar von Eros, Logos, Kosmos durchblättere, dann wimmelt es von Anstreichungen und Notizen. Allein die Anmerkungen des Buches umfassen 220 Seiten, nach wie vor eine lohnende Fundgrube! Ich habe es im Frühsommer 1997 gelesen, meistens im Freien. Ich erinnere mich, wie für mich die Weite des Himmels und die innere Weite des Buches eins waren. Auf meine innere Leere nach der Fehlgeburt antwortete hier Geist mit einer großartigen Fülle. Das war unglaublich tröstlich. Ich wurde intellektuell, aber auch spirituell auf eine neue Art und Weise versorgt. Ich konnte mir Seite für Seite selbst zuschauen, wie ich endgültig in einen größeren Bewusstseinsraum umzog.

Mit sechzehn Jahren ging es mir schon einmal so. Damals lasen wir im Deutschunterricht Adornos Erziehung zur Mündigkeit. Mitten in  der Lektüre wurde mir bewusst, was aufgeklärtes Denken ist, was ähnlich aufregend und erleichternd zugleich war – mein Bewusstsein hatte sich endgültig in ORANGE etabliert.

Wilber hat mich von der ersten Seite an gepackt. Viele grundlegende Aussagen sind mir hier zum ersten Mal begegnet: Das Konzept der vier Quadranten und die Probleme diverser Quadrantenabsolutismen, die Gefahr der Prä-/Transverwechslung bei der Entwicklung über die Stufen, die Unterscheidung zwischen Herrschaftshierarchien und Wachstumshierarchien. Überzeugt hat mich auch Wilbers Kritik an reduktionistischem „Flachland“-Denken der Moderne, die Effizienz und Funktionalität über alles setzt und deren nackter Rationalismus die Tiefendimensionen der Wirklichkeit leugnet. Ebenso seine wunderbar klärenden Ausführungen zur Mystik, mit der ich mich damals schon viele Jahre lang befasst hatte. Ich verstand auch meine eigenen spirituellen Erfahrungen und Durchbrüche besser, die mir das Herzensgebet eröffnet hatte. Wilber diskutiert ja auch zahlreiche theologische Themen. Er  beschreibt z. B., wie Jesus durch die Apologeten der frühen Kirche zum einzigen Sohn Gottes erklärt wurde. Von nun an galt das Dogma, dass sich der göttliche Logos,  – der eigentlich der universale Geist in jedem von uns ist – , nur ein einziges Mal vollständig in einen einzigen Menschen ergossen habe. Jesus, der dank seiner Einheitserfahrung mit Gott frei war von jeder Exklusivität und der ganzen Menschheit in Liebe diente, wurde damit zum ausschließlichen Eigentum der Kirche. Wilber sagt, das Traurige an dieser mythischen Besitzhaltung sei, dass sie uns Christen von allen anderen Weltbürgern trennt; mehr noch, sie trennt Christus von allen Christen. Christliche Mystiker, die ebenfalls die nonduale Erfahrung des Einsseins mit dem göttlichen Grund machten, wurden damit zu Häretikern und Ketzern, sobald sie es wagten, darüber zu sprechen. Und dieses Tabu existiert bis heute. Es blockiert gewissermaßen den Weg ins Zentrum unseres Glaubens, denn Jesus wünschte sich ja, dass wir alle wie er „eins mit dem Vater“ werden sollen.

 Mein Eindruck ist, dass Ihr Buch sehr viel Vorwissen voraussetzt. Würden Sie jemandem empfehlen, zuerst „Gott 9.0“ zu lesen und erst danach Ihr zweites Buch?

Welches der beiden Bücher eine Leserin oder einen Leser zuerst erreicht, kann ich nicht beeinflussen. Beide ergänzen sich aus meiner Sicht. Vermutlich tut man sich etwas leichter, wenn man Gott 9.0 bereits gelesen hat, weil wir dort die Stufen und Zustände ausführlich darstellen. Ich empfehle bei beiden Büchern nicht nur die Kapitel zu den Bewusstseinsstufen zu lesen. Darauf konzentrieren sich die meisten. Kaum jemand nimmt Bezug auf das Kapitel über die Bewusstseinszustände, das Feld der Mystik und die eigene praktische Einübung in Gebet und Kontemplation. Dabei lebt jede Religion davon, dass der Geist sich durch uns und in uns in alle Richtungen erforschen kann, auch in die Tiefe und Weite der Versenkung bis hin zum Nondualen. Ein integrales Christentum gibt es nur mit einer verbindlichen spirituellen Praxis.

 Dieses Anliegen merkt man Ihrem Buch an. Es enthält neben viel Vertiefungsstoff zahlreiche Vorschläge für Übungen, alleine oder in der Gruppe. Welches Setting, welche Kreise hatten Sie dabei vor Augen?

Menschen auf verschiedenen Bewusstseinsstufen (BLAU, ORANGE, GRÜN, GELB), wie sie mir in meinen Vorträgen  und Seminaren begegnet sind oder mir nach der Lektüre von Gott 9.0 geschrieben haben. Es waren viele Kirchendistanzierte darunter, Menschen aus der integralen Szene, aber auch viele engagierte Christen aus allen Konfessionen, kirchliche Mitarbeiter, Ordensleute, Religionslehrer, Pastoren von Landes- und Freikirchen, die längst über BLAU hinausgewachsen sind. Viele wünschten sich eine „GELBE Gemeinde“, ein integrales christliches Netzwerk, manche haben eine kleine Gruppe vor Ort, in der sie sich integral verständigen und gemeinsam weiterentwickeln können. Ich hoffe, dass ihnen die Übungen in Integrales Christentum dabei helfen.

 Wozu braucht es Übungen überhaupt? “Reicht es nicht einfach zu vertrauen und zu glauben“ – so ähnlich hat es einer meiner Blogleser gefragt.  Was wäre Ihre Antwort gewesen?

Dieser Satz kommt aus dem BLAUEN Bewusstseinsraum und enthält ein gewisses Maß an Apologetik. Man spürt in der Frage schon eine Verunsicherung durch all die komplexen Themen, die mit der BLAUEN Weltsicht nicht mehr hinreichend beantwortet werden können. Weil man aber noch weitgehend mit dieser Stufe identifiziert ist oder man seine Gemeindezugehörigkeit nicht in Frage stellen will, drückt man die eigene Beunruhigung nicht offen als Zweifel aus, sondern zieht sich hinter ein Bibelwort zurück. Hintergrund ist ein Rat im Hebräerbrief, (11,1), wo es heißt, dass der Glaube ein festes Vertrauen ist auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Auf die Entwicklung über die Stufen (AUFWACHSEN) angewandt, ist dieser Rat ein großes Hindernis für die weitere spirituelle Reifung, denn Zweifel sind die großen Schrittmacher, die für die nächste Stufe öffnen und uns bei jedem Stufenwechsel unterstützen. Darum habe ich einige Übungen zum kreativen Zweifel bei ORANGE eingebaut. Natürlich hat man den kreativen Zweifel aber schon früher genutzt, sonst wäre man nicht bis BLAU gekommen und würde noch ans Christkind, die Zahnfee oder den Osterhasen aus PURPUR glauben.

Im Buch beschreibe ich aber auch genauer, worauf dieser Rat des Hebräerbriefes meiner Meinung nach zielt –  auf die Erfahrung der bilderlosen Dunkelheit in der formlosen Kontemplation, wo man tatsächlich nichts sieht und „ins Innere hinter den Vorhang“ der Bilder, Gefühle und Gedanken ins reine Gewahrsein gelangt. Der Vers ist also selbst ein mystagogischer Übungshinweis für Fortgeschrittene, die sich bereits der formlosen Versenkung ins reine Christusbewusstsein widmen. Wenn man ihn dem Modul der Bewusstseinszustände (AUFWACHEN) zuordnet, macht er plötzlich ganz neu Sinn.

Es wäre also ganz wichtig, dass Christen mit Hilfe einer integralen Exegese verstehen lernen, wann Bibeltexte oder Schriften von den Wüstenvätern, den frühen Kirchenvätern oder MystikerInnen etwas zu den Zuständen sagen und von welcher Stufe aus sie es dann selbst deuten. Der biblischen Frage „Verstehst du auch, was du da liest?“ kann man sich mit dem integralen Blick ganz neu stellen. 

 Sie sind schon lange mit der integralen Theorie und Lebenspraxis vertraut. Was hat sich dadurch in Ihrem Denken und Leben am stärksten verändert?

Meine Weltsicht, vor allem aber meine Selbstwahrnehmung. Vor der Beschäftigung mit dem Integralen Ansatz hatte ich dank Tiefenpsychologie, Mystikerstudium, Enneagrammarbeit und Herzensgebetspraxis schon eine über zehnjährige intensive Auseinandersetzung mit meiner eigenen Egostruktur und Schattenanteilen laufen. Damit war ein entscheidendes integrales Modul schon etabliert. Doch die Aufgabe, das Ego zu reduzieren und sich dem eigenen Schatten zu stellen, hört nie auf. Dank des integralen Blickes lerne ich nach wie vor, meine problematischen Anteile klarer zu sehen und versuche, damit so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Es gibt im Lauf eines Tages ständig Momente, wo sich eine der Stufen aus dem ersten Rang – die schließlich alle erhalten bleiben – meldet und gerne hätte, dass ich nach ihr handele. Natürlich hat jede Stufe großartige Kompetenzen, die wir nutzen und wirklich schätzen sollten. Aber es schleichen sich dabei auch gerne die alten dualistischen Strukturen durch die Hintertür mit ein. Für mich bringt der integrale Blick eine neue Wachheit für diese Art von Versuchung und eine neue Freiheit im Umgang mit den Werteräumen der verschiedenen Stufen.

Wichtig ist es mir, anderen Menschen zu helfen, sich gerade in unruhigen Umbruchzeiten wie diesen nicht von Frust, Panik oder Hass erfassen zu lassen, sondern ihnen mit Hilfe der integralen Landkarte so viel Orientierung wie nur möglich zu geben. Wer integral denkt und handelt, kann so an seinem Platz mithelfen, die ganze Spirale zu stabilisieren und vor Abstürzen zu bewahren. 

 Sollte jemand jetzt schon eine integrale Kirche gründen oder werden sich die jetzigen Kirchen irgendwann alle in eine einzige integrale Kirche verwandeln – was meinen Sie?

In Amerika gibt es schon einige solcher Gründungen (zumindest dem Namen nach – manches erscheint mir da aber eher GRÜN zu sein). An eine einzige integrale Kirche glaube ich nicht, wir werden immer verschiedene Kirchen und Konfessionen haben. Kirchengeschichte kann man nicht umkehren. Im Moment entwickelt sich das integrale Christentum wie GRÜN in den frühen 1970er Jahren vor allem an den „Hecken und Zäunen“, also eher am Rand der Kirchen, in Bildungshäusern, Orden und in kleinen, auch kirchenfernen Grüppchen. Vielleicht werden aber auch protestantische Theologen wie Friedrich Schleiermacher oder Richard Rothe Recht behalten, die sich ein Christentum auch ohne Institution Kirche vorstellen konnten. Jesus konnte das offensichtlich auch ganz gut, ihm genügte ein Kreis von Schülern und Schülerinnen. Wenn wir aber auf die beiden unteren Wilberschen Quadranten schauen, dann werden Menschen immer danach fragen, welche Werte und Kultur sie teilen wollen, welcher religiösen Gemeinschaft sie angehören möchten und in welchen Strukturen und Formen das konkret gestaltet werden soll. 

 Ist Erleuchtung ein Prozess oder ein Moment, der alles verändert? Und: Wären Sie gerne erleuchtet?  

Erleuchtung ist, was die Stufen betrifft, sicher ein Prozess. Man braucht eine jahrelange,  dauerhafte Anpassung auf jeder einzelnen Stufe, damit weiteres Wachstum und Reifung hin zu immer mehr Liebe und Mitgefühl möglich wird. Der GEIST oder Logos ist dabei, wie Jesus sagte, unser Tröster und Beistand. Er lockt und zieht uns mit seinem Eros in diese Richtung und baut in uns neue Stufenräume auf, die er mit seinem Licht und seiner Klarheit ausfüllen möchte. Da der EINE, nichtduale GEIST aber immer und überall vollständig gegenwärtig ist, kann man auf jeder Stufe auch eine spontane Erleuchtungserfahrung machen. Entscheidend ist die absichtslose Offenheit in genau diesem gegenwärtigen Moment, um das „Sakrament des Augenblicks“ zu erfahren. Ein solches Erlebnis gibt einem das Gefühl, dass man die wirkliche Wirklichkeit, Gottes Reich, erfahren durfte. Danach ist tatsächlich nichts mehr wie zuvor. Deuten kann man sich das allerdings immer nur von der Stufe aus, auf der man seinen aktuellen Bewusstseinsschwerpunkt hat.

Außerdem gibt es Erleuchtung in verschiedener Tiefe der Bewusstseinszustände. Man kann sie auf der Ebene des Wachseins, der subtilen Traumebene oder im ich- und formlosen Dunkel der  Tiefschlafebene erleben. Ken Wilber fragt darum immer: Welche Erleuchtung, auf welcher Stufe und in welchem Zustand?

Ich nenne die großen Mystiker und Kontemplativen die „Tiefseetaucher des Bewusstseins“. Sie üben sich darin, eine konstante Wachheit in allen diesen Bewusstseinszuständen zu erlangen, bis der Urgrund dieser Zustände, der absolute GEIST selbst das ganze Bewusstsein ausfüllt und „Gott alles in allem“ ist. Meister Eckart nennt das „beständig“ sein können. Paradoxerweise blockiert der ichhafte Wunsch nach dem Einswerden mit Gott oder nach Erleuchtung genau dieses vollständige Erwachen. Mystiker aller großen Weltreligionen bemühen sich darum ums Leerwerden von Wünschen aller Art. Daran halte ich mich: Kein Wunsch nach Erleuchtung, sondern lieber nach Leere und Stille. 

 Frau Küstenmacher, vielen Dank für das Gespräch!

02.04.2013

Grenzüberschreitungen

In unserem Buch Gott 9.0 nimmt die Darstellung der Bewusstseinsräume (auch „Stufen“, „Wellen“ oder „Werte-Meme“ genannt) von 1.0 bis 9.0 einen großen Raum ein. Logischerweise haben wir  sie hintereinander beschrieben, was natürlich ein Dilemma bedeutet, weil ja alle Bewusstseinsstufen gleichzeitig in der Spirale schwingen und dadurch einander durchdringen. Die Spirale ist also von den unterschiedlichsten Soziosphären bevölkert, die sich ständig wechselseitig beeinflussen. Allerdings kommen diese Werte-Räume trotz ihres simultanen „Vibrierens“ keineswegs immer gut miteinander aus. Sie konkurrieren offen miteinander. Das gilt nicht nur für kulturelle Großverbände wie unsere Gesellschaft oder spirituelle Megaorganismen wie Kirche, sondern auch für Individuen. Jede/r von uns kann das bei sich selbst feststellen:  was wir „Ich“ nennen ist unsere persönliche und einmalige Mixtur aus Bewusstseinsinhalten der verschiedenen Bewusstseinsräume, die wir bisher durchlaufen haben.

Das ständige Hintergrundrauschen unserer Wirklichkeitswahrnehmung ist also die Polyglossie der gesamten Spirale, mittels der die verschiedenen Wertestufen bis 6.0 mit ihren Weltdeutungen in Kontakt treten wollen. Nur dringt dabei leider oft das positive Gespräch als wechselseitige Befruchtung der Stufen zu wenig durch. Ein Grund dafür ist, dass wir vor allem die typischen Dualismen der Stufen um die Ohren geschlagen bekommen ( z. B. „Sünder versus Gerechte“ in BLAU oder „Erfolgreiche versus Versager“ in ORANGE). Diese Dualismen sind die Trutzburgen geschlossener Wertesysteme. Man kann sie mit dem Historiker Reinhart Koselleck als „asymmetrische Gegenbegriffe“ erfassen, bei denen eine Gruppe das soziale oder spirituelle Feld zu ihren eigenen Gunsten definiert. Die Nicht-Gruppenmitglieder dagegen werden abgewertet, man selbst schiebt sich damit in eine positiv aufgeladene Überlegenheitsposition. Selbst die auf Inklusion bedachte GRÜNE Stufe operiert noch mit diesen Asymmetrien („Sensible versus Unsensible“, „Tolerante versus Intolerante“) und subtilen polarisierenden Abwertungsstrategien (z. B. definiert sie ihr genehme politisch korrekte Sprachcodes und spricht Sanktionen aus gegenüber allen, die gegen die GRÜNEN Sprechmuster verstoßen). Inklusion basiert auch bei GRÜN immer noch auf bestimmten Spielarten von Exklusion.

Wenn einem das ab GELB 7.0 bewusst wird, dann kann man sich an die Umschmelzung der eigenen Dualismen herantasten, indem man aufhört, sich zur jeweiligen „erhöhten Gruppe“ zu rechnen. Man verlässt die sichere Trutzburg (oder den Tempel) der besseren Gruppe und begibt sich ins verbotene Grenzland zwischen dem Eigenen und dem „Fremden“. Diese Aussteiger-Strategie hat Jesus selbst verfolgt und auf seinen Wanderungen hin zu Ausgeschlossenen und Angehörigen anderer religiöser Gruppen die Asymmetrien aufgehoben (z.B. Joh. 4 im Gespräch mit der Samariterin am Brunnen). Aus Heiden, Unreinen und Sündern wurden Menschen mit eigener Stimme und Geschichte. Aus bedrohlicher Fremdheit wurde vielstimmige Verschiedenheit. Damit  fangen aber neue Probleme an. Diesmal mit der eigenen Herkunftsgruppe. Denn sobald man mit diesen Bewegungen außerhalb des religiösen Sicherungssystems beginnt und sich auf neue Bewusstseinsfelder vorwagt, wird man reflexartig als Abweichler, Synkretist und Feind des Glaubens abgestempelt. Andere müssen eindringlich vor einem gewarnt werden. (Ein Mechanismus, den wir auf Amazon auch bei den 1-Sterne-Rezensionen zu unserem Buch sehen). Hier wünscht man sich doch, dass zu den vielen Namen, die Jesus im Lauf der Zeit zugesprochen wurden, auch der Ehrentitel „inspirierender Grenzüberschreiter“ hinzukommen würde. Ein Name, der darauf zielt, dass Jesus alle einlud, mit ihm unterwegs zu sein, über die selbstgezogenen Grenzen hinweg zur grenzenlosen Grenze des Bewusstseins, wo alle Dualismen ein Ende haben.

 

18. Februar 2013

Just for fun!

Hier kommt etwas aus der humorvollen Ecke im Umgang mit den Bewusstseinsstufen. Auch wenn ich es mit Augenzwinkern geschrieben habe, so zeigt es vielleicht dem einen oder anderen, dass die Bewusstseinsstufen von 1.0 bis 9.0 Deutungsräume sind, mit denen wir auch biblische Texte (neu) lesen. Viel Spaß!

DAS VERLORENE SCHAF

Jesus erzählt: Ein Schaf ist aus der Herde weggelaufen. Was ist zu tun?

1.0 BEIGE: Fühlt sich auch vollkommen verloren und weiß nicht mehr, wer und wo er ist.

2.0 PURPUR: Hängt sich einen Talisman um zum Schutz gegen den bösen Geist, er ihm das Schaf gestohlen hat und geht dann zu einer Wahrsagerin, um sich sagen zu lassen, wo das Schaf ist.

3.0 ROT: Tötet aus Wut einen Schäferhind, den er für einen Wolf hält, zwingt dann den Hirten des Nachbarn zu Schutzgeldzahlung und holt sich fünf Schafe aus dessen Herde.

4.0 BLAU: Erlässt strenge Gesetze zum besseren Schutz von Schafen und verbietet auf großen Schildern das Weiden auf nicht umzäunten Wiesen.

5.0 ORANGE: Erstellt eine Statistik über das durchschnittliche Verschwinden von Schafen und rechnet Anlegern vor, dass 99 Schafe iene extrem hohe Gewinnspanne bedeuten und es Zeit wird, krisensichere Schafsfonds aufzulegen.

6.0 GRÜN: Setzt sich mit den verbliebenen 99 Schafen in einen Kreis und redet mit ihnen darüber, wie betroffen und traumatisiert alle von diesem Verlust sind.

7.0 GELB: Erfasst die Gesamtheit aller Interessen (Hirten, Schafe, Herdenbesitzer, Anleger und Wölfe) und schafft ein integriertes Weideprogramm, bei dem die Lebensbedingungen so umgestaltet werden, dass die Schafe nicht mehr weglaufen wollen.

8.0 TÜRKIS: Setzt ein globales Makromanagement in Gang, bei dem alle Hirten in ein virtuelles Netzwerk eingebunden werden, das ihnen ermöglicht, ihre mit Chipsensoren gemarkten Schafe per Geofencing ständig im Blick zu haben und im Voraus zu erfassen, was die Herde als eigener Organismus als nächstes tun möchte.

Und Jesus? er ist schon längst losgelaufen und sucht das Schaf...

 

5. Februar 2012

Facebook und Gott 9.0

Seit anderthalb Jahren wird in der facebook-Gruppe zu Gott 9.0 über unser Buch diskutiert. Inzwischen sind es über 250 Leserinnen und Leser, die sich hier treffen, um sich gegenseitig zuzuhören und Ideen und Erfahrungen auszutauschen. Als Autorin erlebe ich hier zum ersten Mal "in Echtzeit" und hautnah mit, auf welche Weise das Buch nachwirkt und zum Austausch und gemensamen Weiterdenken anregt. Ich bin eigentlich kein facebook-Fan, aber diese permanente Plattform möchte ich nicht mehr missen und lade darum herzlich gerne von hier aus dazu ein, zu uns zu stoßen! Unsere Gespräche umkreisen die Themen des Buches, jeder kann seine Fragen loswerden, die während der Lektüre aufgetaucht sind. Das Schöne ist: Man bekommt nicht nur Antworten von uns drei Autoren, sondern noch viel öfter Antworten aus der "Wolke der Zeugen", aus dem Erfahrungswissen sehr vieler bewusster Menschen, die sich um eine neue Spiritualität bemühen. Mir persönlich geht es um die Verbindung zwischen unserem alten christlichen Glaubenspfad, dem tiefen Mystikerwissen der Weltreligionen und einem befreienden integralen Bewusstsein.  Ich suche diese Verbindung im Blick auf meine persönlichen Erfahrungen mit Jesus Christus neu zu buchstabieren. Dazu hier ein eher poetischer Meditationstext, der in mir als Reaktion auf verschiedene Beiträge in unserer facebook-Gruppe zu Gott 9.0 entstand. Herzlichen Dank an alle, die mich dazu inspiriert haben!

Neue ICH BIN-Worte Jesu an seine integralen Freunde von Gott 9.0

ICH BIN der Obdachlose, der unter den Brücken verlorener Gewissheiten haust. Komm hinaus ins Freie und teile mein Glück!

ICH BIN der Fels des paradoxen Denkens. Du kannst deine Gedankenboote an mir zerschellen lassen – ich vergehe nicht.

ICH BIN der Weg, der dir vorauseilt. Ich wähle dich, wenn du deine dogmatischen Goldklumpen weggeworfen hast.

ICH BIN der Fußabdruck nackter Liebe im Flussbett der Zeit. Zieh deine Schuhe aus und folge mir nach!

ICH BIN das lodernde Sakrament des Augenblicks. Entzünde damit den Papierreifen der Heiligen Schrift und spring hindurch, direkt in meine Arme! 

ICH BIN das Meer, das den Kontinent deiner Angst fortspült. Du kannst getrost in die Nussschale des Vertrauens klettern und dich von mir tragen lassen.

ICH BIN das Heilige Schweigen. Du findest mich hinter der Schneeflockengrenze all deiner inneren Bilder.

ICH BIN der Mantel aus lichtlosem Licht. Wenn du in den Wald des Nichtwissens eindringst, wärme ich deine reine Seele.

ICH BIN bei dir, wenn die Nachtfalter Leid und Schmerz die Augen deines Herzens verschatten. Ich verlasse dich nicht.

ICH BIN der fliegende Teppich, durch dessen unzählige Löcher Gottes Lächeln schimmert. Lege dich auf mich und übe dich so darin, dem reinen GEIST zu vertrauen.

ICH BIN das Leben selbst. Ich atme dich in der russischen Puppe aller deiner Bewusstseinsebenen und Versenkungszustände. Du erkennst mich im Angesicht aller Menschen.

ICH BIN die Wahrheit des Dieners, der dem Diener dient. Komm und verneige dich mit mir.

ICH BIN der Wolkenschaum, der das EINE in allem gebiert. Willst du mein Zeuge sein?

ICH BIN der kosmische Geliebte. Siehst du, wie ich erglühe, wenn du das Wort flüsterst, in dem alle anderen enthalten sind?

ICH BIN der EINE Blick auf die Welt. Geh in mich ein. Mach meine Augen auf und werde zur SCHAU.

Erkenne jetzt: ICH BIN wird nicht aufhören, EINS zu sein.

Sei du in mir, sprich du durch mich: ICH BIN.

 

© Marion Küstenmacher 2012

 

7. März 2011

Albert Schweitzer und der Mörtel von der Wand

An den Leserbriefen, die uns zu Gott 9.0 erreichen, merken wir, wie viele Menschen beim Wechsel von der mythisch-konventionellen Stufe BLAU zur aufgeklärten, entmythologisierten Stufe ORANGE ohne seelsorgerliche Begleitung dastehen. Bin ich z. B. noch ein Christ, wenn ich das Glaubensbekenntnis nicht mehr mitsprechen kann und will? Wie vielen Menschen in der Gemeinde geht es ebenso, ohne dass sie es laut sagen?  Mit ORANGE, so die Erfahrung vieler, geraten sie plötzlich in kirchliches Niemandsland; das BLAUE Glaubenssystem und das gottesdienstliche Angebot laufen an ihren drängenden Fragen, Zweifeln und eigenständigen Erfahrungen weitgehend vorbei. Hier erleben sie einen massiven Bruch, der sie aus Gründen der eigenen Aufrichtigkeit aus den Kirchen wegtreibt, aber in ihnen durchaus Schuldgefühle oder Heimatlosigkeit erzeugen kann.

Vielleicht freut es alle, die gerade in diesem Prozess stecken, dass der Professor für evangelische Theologie, Kulturphilosoph, Musikforscher, Urwalddoktor und Mystiker Albert Schweitzer (1875-1965) für diese Phase spiritueller Entwicklung ermutigende Worte fand: „Es kommt fast für jeden Menschen der Augenblick, wo die überkommene und angelernte Religion von ihm abfällt wie der Mörtel von der Wand. Erziehung, Haus und Familie, religiöses Milieu, alles kann nichts helfen, es muss so kommen, damit der Mensch er selbst wird.“

Die eigene spirituelle Entwicklung des elsässischen Pfarrerssohns Albert Schweitzers endete aber keineswegs mit dem ORANGEN Aufbruch in die Freiheit religiöser Selbstbestimmung. Schweitzer erkannte, dass es in jeder Weltanschauung oder Religion letztlich um das geistige Einswerden mit dem unendlichen Sein geht und dass es die Mystik ist, die diesen Erfahrungsweg anbietet. Seine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Gestalt Jesu führte ihn zu einer Erkenntnis des „gemeinsamen Wollens“. Kann ich und will ich in der gleichen Einheit und Hingabe leben wie Jesus? Nachfolge Jesu wurde für Schweitzer eine Frage konkreten Handelns, begründet auf einer ethischen Mystik („Ehrfurcht vor dem Leben“), die anders als eine rein intellektuelle Auseinandersetzung mit Einheitserfahrungen ein zutiefst humanes Engagement erzeugt. Das hat auch Auswirkungen auf die Ausbildung neuer Bewusstseinsräume bzw. Stufen. Schweitzer: „Tatsächlich geht die Ethik der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst unmerklich in die der Hingebung an andere über.“ Mit anderen Worten: Der Weg führt über selbstverantwortetes ORANGE zu GRÜN weiter, das in sich die unbegrenzte Verantwortung für andere spürt und sich konsequent um die Erhaltung und Förderung von Leben kümmert.

 

15.02.2011

In der Tiefe des Herzens

Ein freundlicher Gott 9.0 Leser schickte mir einen visionären Text von Bede Griffiths (1906 – 1993) aus dem Jahre 1991, der wunderbar zu Menschen auf der Stufe GRÜN 6.0 passt, die sich in Meditation und Kontemplation üben und spüren, dass sich dabei auch ihr (Stufen-)Bewusstsein ändert.

Bede Griffiths war ein anglikanischer Literaturwissenschaftler aus Oxford, der zum Katholizismus konvertierte und Benediktinermönch wurde. Er war einer der großen Mystiker des 20. Jahrhunderts und leitete 25 Jahre in Südindien ein interreligiöses Begegnungszentrum. Der folgende Abschnitt stammt aus: Bede Griffiths: Göttliche Gegenwart. Otto Müller Verlag, Salzburg 2002 – sehr empfehlenswert!

"Durch Kontemplation (also das regelmäßige Einüben von bilderlosen Versenkungszuständen, in Gott 9.0 ab S. 236) kommt das tiefere Bewusstsein zum Vorschein. Es ermöglicht die Erfahrung der Einheit, die jenseits der Vielheit, der Welt ringsum, jenseits des Verstandes und des Denkens liegt. Man gelangt dabei zu dem einen Punkt im Innern. Das ist … die innere Wirklichkeit ..., die Bewusstheit des Geistes, des Ewigen. Es ist die spirituelle Reise. Der Bezugspunkt für alles muss die eine Wirklichkeit sein. Man kann sich in jedem Augenblick des Tages der Gegenwart Gottes bewusst sein. Das ist der Ruf, den die Menschen heute hören.

Natürlich kann man nicht im Geist allein leben. Der Mensch braucht auch alltägliches Leben, das er organisieren muss. Er braucht Rituale … Viele Menschen leben jetzt in dieser Welt der Geistlichen und Sakramente, der Welt der äußeren Religion. Die Religion wird zu einer äußerlichen Angelegenheit, und das tiefere Bewusstsein von der Gegenwart Gottes verschwindet immer mehr. In allen Religionen besteht das Problem, dass sie die Tendenz haben, in den ursprünglichen Gesetzen, Regeln, Ritualen und Dogmen zu erstarren. So entsteht dann eine Struktur, an der man sich festklammern kann. Aber sie ist etwas Geschaffenes, nicht das Ungeschaffene. Das Ungeschaffene ist immer gegenwärtig, aber man konzentriert sich dann auf das Geschaffene. Wir alle sind gerufen, über die Sakramente und Zeichen und Dogmen hinauszugehen. Das heißt nicht, dass ihr sie zurückweisen sollt, ihr könnt sie ruhig behalten. Aber ihr müsst durch sie hindurchbrechen zu dem, was sie verkörpern. Sie verkörpern die Wirklichkeit. Ihr müsst durch die Zeichen und die Symbole zur Wirklichkeit hindurchbrechen, ob es sich bei den Zeichen nun um die Eucharistie oder das Dogma von der Fleischwerdung Gottes oder sonst etwas handelt. Ihr müsst durch all diese Zeichen hindurchbrechen und die göttliche Wirklichkeit entdecken, die sich euch in diesen Zeichen vergegenwärtigt.

Das ist Kontemplation: hinter die Zeichen und Symbole der Religion zu dringen, vorzudringen zur Wirklichkeit, zur einen Wahrheit, zum einen Selbst, das sich in diesen unterschiedlichen Formen ausdrückt und in den unterschiedlichen Religionen variiert. Dieses eine Selbst liegt in jedem von uns. Die Tiefe unseres Selbst ist eine Wirklichkeit, ein Wort. In jedem Mensch ist der Geist gegenwärtig, das müssen wir entdecken.
Das ist das Ziel der menschlichen Existenz und das Ziel der spirituellen Reise. Es kommt darauf an, diese verborgene Gegenwart im Herzen und im eigenen Wesen zu entdecken, die eine Wirklichkeit jenseits von Worten und Zeichen.
So also sehe ich heute diesen Ruf, und wie gesagt, in jedem Teil der Welt vernehmen ihn die Menschen. Das ist das Außergewöhnliche, und so entstehen heute religiöse Bewegungen. Es gab in der Geschichte immer wieder solche religiösen, spirituellen Bewegungen, und für mich ist das die große spirituelle Bewegung der heutigen Zeit.

Was die Menschen heute finden, ist nicht ein Gott dort oben, sondern ein Gott im Herzen. Das hat für die meisten Menschen die tiefe Bedeutung, dass das Göttliche, dass Gott im Herzen ist, im innersten Zentrum des Wesens; das heißt, Gott ist in eurem Wesen und im Wesen des ganzen Universums, im Herzen aller Dinge.
Ihr seht also, dass sich ein radikaler Wandel auf der Welt vollzieht, in der ganzen Welt der Religion. Ich glaube, diese spirituelle Bewegung entstand, um auf dieses Bedürfnis des heutigen Menschen zu antworten. Die Menschen können viele der alten Symbole und Strukturen und Organisationen nicht mehr akzeptieren, denn sie befriedigen ihr tiefstes Bedürfnis nicht mehr. Sie suchen deshalb nach einer tieferen Wirklichkeit dahinter und nach Möglichkeiten, sie auszudrücken. Sie ist die eine Wirklichkeit jenseits aller Worte und allen Denkens, und sie gibt allem seinen Sinn.
Diese Wirklichkeit wird für jeden wieder anders sein. Wir haben alle unseren eigenen Hintergrund, unsere eigenen Symbole und Sprache usw. Und wir alle müssen durch diese verschiedenen Symbole und Dinge hindurchbrechen, um die Wirklichkeit dahinter zu entdecken. Die Wirklichkeit liegt in der Tiefe des Herzens."

 

07.02.2011

Gott 9.0 in einer sozialwissenschaftlichen Masterarbeit

Gott 9.0 ist erst seit vier Monaten im Buchhandel, aber bereits Untersuchungsgegenstand einer erfolgreich abgeschlossenen sozialwissenschaftlichen Masterarbeit. Christine Gesell hatte im vergangenen Sommer an einem meiner Seminare zu Gott 9.0 teilgenommen und danach eine Umbruchkopie unseres noch nicht erschienen Buches erhalten. Sie untersucht in ihrer Masterarbeit mit professionell gestalteten biografischen Interviews die spirituelle/religiöse Identitätsbildung Erwachsener. Sie benutzt dabei neben der chronologisch erzählten Lebenslinie (Zeitleiste) dafür auch eine von ihr entwickelte Visualisierungsmethode, bei der einem Körperbild spirituelle Erfahrungen zugeordnet werden können. An Hand eines einfachen Körperschemas (Umrisszeichnung) kann man mit verschiedenen Farben die spirituellen Einflüsse einzeichnen, die auf einen einwirkten.

Im Rahmen ihres über 300 Seiten langen Forschungsberichts referiert Christine Gesell dann auch über Gott 9.0. Sie sieht in unserem Buch ein erhellendes Schema, das dabei hilft, die spirituellen Aspekte einer Biografie besser differenzieren zu können. Mit dem in Gott 9.0 vorgestellten Modell wird es leichter zu erkennen, was Auseinandersetzungen  mit zeitgeschichtlich erlebten Strömungen und gesamtgesellschaftlichen Werten sind (Bewusstseinsstufen, z. B. das Entstehen der feministischen Theologie), wo es sich markante Themen eines Persönlichkeitsmusters handelt (Typenspezifika, z. B. Neid) oder die Verarbeitung besonderer spiritueller Erfahrungen (Bewusstseinszustände, z. B. Gefühl von Glückseligkeit).

Gesells Fazit: „Ich erlebe dieses Modell … als ein die Gedanken und Konzepte ordnendes Hilfssystem und es lädt sehr schnell zur größeren Selbsteinordnung, zur Reflexion und zur genauen Standortbestimmung ein. Ein vormals diffuses Wissen um sich selbst kann sich zu mehr Bewusstheit um sich selbst und eigenes Bewusstsein konturieren.“ (S. 281)

„Als ich im Freundeskreis das Wachstumsmodell Gott 9.0 mit dem einprägsamen Farbcode mündlich vorstellte und wir in lebhafteste Debatten und einen sehr nahen Austausch verfielen mit etlichen Aha-Momenten, wurde uns deutlich, dass wir mit den Stufenbezeichnungen und dem Farbcode nun sozusagen eine gemeinsame Sprache zur Verfügung hatten. Vieles wurde plötzlich viel klarer und so manches machte nun Sinn… Das ist meiner bisherigen Einschätzung nach einer der großen Vorteile von Gott 9.0. Mit dem Basiswissen Gott 9.0 fällt es auch leichter, sich mit aktuellem Geschehen wie beispielsweise der Globalisierungsdebatte, den unterschiedlichen Lagern sowie speziellen Teilbereichen davon auseinander zu setzen.“ (S. 282)

Literatur: Christine Gesell, Biographische Relevanzen bei der spirituellen/religiösen Identitätsentwicklung. Masterarbeit im Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel. Masterstudiengang „Soziale Arbeit und Lebenslauf“, 2010

 

 

15.1.2011

Die Linien

Nach der Beschreibung der neun Bewusstseinsstufen folgt in unserem Buch das Kapitel über Entwicklungslinien. Einige unserer Leser wünschten sich dazu noch mehr Informationen. Da wir gerade dieses Kapitel aus Platzgründen sehr knapp halten mussten, komme ich diesem Wunsch gerne nach.

Lebendige Entwicklungsprozesse

Wie wir im Buch schreiben, gibt es aufeinander aufbauende, immer komplexer werdende Bewusstseinsstufen (oder Bewusstseinsräume). Daneben gibt es zahlreiche unterschiedliche Entwicklungslinien, mit deren Hilfe Sie diese Bewusstseinsräume erobern können. Die Linien stellen Sie sich bitte als lebendige, flexible, dynamische Entwicklungsprozesse vor. Sie können unterschiedlich weit ausgebildet sein. Das heißt, Sie können beobachten, dass bei Ihnen selbst manche Linien z. B. bis 4.0 reichen, andere bis 5.0 und wieder andere bis 6.0 oder weiter.

Zusammengehalten werden alle Entwicklungslinien von Ihrem persönlichen Selbst-System. Sie ergeben als Strang ein einmaliges, unverwechselbares Bündel von persönlichen Intelligenzen und Gesamtkompetenzen. Als Selbst-System bezeichnet die Selbst-Entwicklungs-Theorie die Instanz in jedem Menschen, die als zentrale Gestaltungskraft des Sinngebens in uns wirkt. Ganz gleich, auf welcher Stufe Ihr Schwerpunkt liegt – immer ordnen Sie dem, was Sie erkennen oder Ihnen widerfährt, einen Sinn zu. Oder Sie sprechen ihm einen Sinn ab. Welchen Sinn Sie finden, hängt ab von Zeitpunkt, Ort, Sprache und Kultur. Dennoch scheint die individuelle Selbstentwicklung einem universellen Muster zu folgen, an dem jeder Mensch teilhat. Ganz offensichtlich sieht das Selbst-System seine Hauptaufgabe darin, sich immer wieder selbst zu überschreiten oder zu transformieren und zu einem höheren Bewusstsein zu gelangen.

Ein Drahtseilakt der Seele

Ken Wilber nannte das Selbst-System einmal den „Drahtseilakt der Seele“, weil es oft eine sehr anstrengende Daueraufgabe ist, diese unterschiedlichen Wachstumshöhen im eigenen Inneren ständig neu auszubalancieren. Schiebt sich eine Entwicklungslinie nach vorn, bleiben andere (im Vergleich dazu) dahinter zurück. Das erzeugt immer wieder Spannungen. Man fühlt sich unausgeglichen und instabil, bis es dem Selbst gelingt, möglichst viele weitere Linien auf eine ähnliche Länge zu bringen. Ansonsten hat man es, wie Wilber sagt, bald mit einem „Riesen“ (einer sehr hoch entwickelten Linie) und einer Menge „Zwerge“ zu tun. Mit anderen Worten: einer anstrengenden seelischen Schieflage und einer möglicherweise ziemlich unausgeglichenen Persönlichkeit (was ich nicht unbedingt automatisch als Problem ansehen würde: Viele Künstlerbiografien zeigen, dass auch eine spannungsvolle Persönlichkeit großartige Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte leisten kann).

Unterschiedliche Kulturen legen verschiedenen Nachdruck auf die Linien. Sie betonen manche stark, andere nicht und fördern damit (wie Eltern bei ihren Kindern) unterschiedliche Niveaus der Linien. Trotzdem gibt es alle diese Linien weltweit.

Hier die wichtigsten Linien und ihre Erforscher (mehr dazu in Ken Wilbers Buch „Integrale Psychologie“):

Die kognitive Linie ermöglicht vielen anderen Linien erst das Wachstum, kann sie aber nicht ersetzen. Hier geht es um Bewusstsein, Intellekt und Erkenntnis. Sie fragt: Was nehme ich wahr? Was kann ich erkennen? Erforscht wurde sie von Howard Gardner, Jean Piaget, Robert Kegan, Michael Commons, Francis Richards.

Die Bedürfnislinie fragt: Was brauche ich? Erforscht von Abraham Maslow.

Die Bewusstseinslinie fragt nach Selbst-Identität und Ich-Bewusstsein: Wer bin ich? Erforscht von Jane Loevinger.

Die Wertelinie fragt nach Lebensstilen, Einstellungen und psychosozialen Räumen: Was ist mir wichtig? Erforscht von Clare Graves, Christopher C. Cowan, Don Edward Beck.

Die emotionale Linie fragt: Was fühle und empfinde ich wann und bei wem? Erforscht von Daniel Goleman (Emotionale Intelligenz).

Die sprachliche Linie fragt nach der narrativen Intelligenz: Wie drücke ich das in Worten aus? Erforscht von Susanne Cook-Greuter.

Die moralische Linie fragt nach der Ethik: Wie verhalte ich mich richtig? Wie sollen wir miteinander umgehen? Erforscht von Lawrence Kohlberg, Carol Gilligan.

Die spirituelle Linie fragt: Was hat für mich allerhöchste Bedeutung? Erforscht von James Fowler, Ken Wilber.

Die eigenen Linien selbst einschätzen lernen

Setzt man seine verschiedenen Linien in eine Grafik um, ergibt sich ein eigenartiger Gebirgszug mit höheren und niedrigeren Gipfeln. Ein Bild, das bei jedem Menschen anders aussieht und sich auch immer wieder ändern kann, sobald er sich weiter entwickelt oder auf eine weniger komplexe Stufe zurückgeht. Versuchen Sie nach der Lektüre von Gott 9.0, Ihr persönliches Liniengebirge auf dem Hintergrund der Stufen zu erfassen. Fragen Sie möglichst viele Ihrer eigenen Linien ab und schätzen Sie, bis zu welcher Stufe diese Linie in etwa reicht. Wo ist Ihr Schwerpunkt, wo zeigen sich Schwächen? Welche Linien sind Ihnen weniger wichtig oder gar fremd geblieben? Welche Linien sind Ihnen im Laufe Ihres Lebens immer wichtiger geworden? Welche verhalfen Ihnen zu Ihrem heutigen Bewusstsein? Wo sind Sie heute kompetenter, komplexer als mit 15, 25, 35, 45 Jahren?

Richten Sie Ihren Blick auf Ihre höchsten und niedrigsten Linien. Wie groß ist da der Kontrast? Hohe Linien zeigen Ihnen Ihren durch Entwicklung gewonnenen Bewusstseins- und Erfahrungsschatz, der auch Ihre besten Gaben an die Welt enthält. Niedrige Linien erfassen Ihre Schwächen, die Sie von einer noch umfassenderen Entfaltung Ihres Potentials abhalten oder Sie sogar (manchmal sogar sehr plötzlich und schmerzhaft) auf weniger komplexe Stufen hinabziehen können. Das Bewusstmachen dieser unterschiedlich entwickelten Linien bewahrt Sie davor, sich einseitig wahrzunehmen und damit blind zu werden für die unreiferen Aspekte Ihrer Persönlichkeit. Tipp: Wenden Sie sich mit Ihrer kognitiven Erkenntnislinie Ihren niedrigsten Linien zu und fragen Sie sich, wie diese schwach entwickelten Linien Sie darin einschränken, mehr Komplexität zu erreichen und die Werte weiterführender Stufen zu leben.

Unterschiedliche Nutzung der Linien bei Männern und Frauen

Es gibt laut Ken Wilber bei gleichen Entwicklungsmöglichkeiten der Linien tatsächlich eine unterschiedliche Nutzung bzw. Wertschätzung bestimmter Linien bei Männern und Frauen. Frauen betonen bei ihren Linien im Allgemeinen mehr Beziehung, Akzeptanz, Verantwortung, Kommunion, Fürsorge, Pflege, Liebenswürdigkeit und Verbundenheit – so entsteht weibliche Transformation. Männer betonen bei ihren Linien im Allgemeinen mehr Handeln, Herausforderung, Gerechtigkeit,  Autonomie, Urteilsfähigkeit, Grenzziehung und kompromissloses Mitteilen der Wahrheit und erzeugen so ihre Transformation als Mann. Die Entwicklung der weiblichen spirituellen Linie ist zudem meist eine inkarnierte, körperzentrierte, immanente, absteigende, sich den unteren Ebenen zuwendende, zutiefst verkörperte Mystik. Frauen haben damit laut Wilber einen härteren Weg als Männer zu gehen.

Natürlich hat trotzdem jeder Mensch eine individuelle Mischung aus beiden Linien und kann so von zwei Seiten aus Zugang zu seinen weiblichen und männlichen Aspekten und Ausdrucksmöglichkeiten von Mitgefühl gewinnen. Beide Wege sollten in Liebe gegangen werden.

 

 

Wie pilgert man durch die Spirale des Geistes?

22.11.2010

Unser Buch Gott 9.0 ist eine Einladung, in die Spirale der geistigen Evolution einzusteigen und durch die neun Bewusstseinsstufen zu pilgern. Aber mit welcher Haltung tut man das am besten? Es geht bei Gott 9.0 natürlich nicht um ein Denken wie im Leistungssport, wo man „immer höher, weiter, schneller“ sein muss und andere abhängen will. Schon gar nicht geht es darum, sich über andere zu erheben. Die Spirale des Bewusstseins lebt davon, dass sich darin Menschen bewegen, die voller Respekt und Liebe auf alle Stufen schauen können. Sie bringt zum Glück auch Menschen hervor, die dafür zu sorgen bereit sind, dass anderen die Wanderung von einer Stufe zur anderen leichter gelingt. Denn das ist keineswegs immer eine einfache Sache.

Die Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) schrieb einmal: „Ich meine, das Leben muss abgestreift werden: muss durchgestanden werden: abgelehnt werden; und dann wie im Rausch zu neuen Bedingungen akzeptiert werden. Und so weiter, und so weiter...“ Dieses Abstreifen, Ablehnen und Durchstehen einer bisherigen Bewusstseinsebene ist anstrengend. Schon wenn es „nur“ unser eigener individueller Prozess ist, erleben wir uns dabei in Phasen massiver Instabilität. Bewegt sich eine gesamte Gesellschaft auf einen Stufenwechsel zu, wird es ungleich dramatischer. Es kommt also darauf an, dass wir Kompetenzen entwickeln, den  Menschen in unserer Umgebung einen guten Übergang beim Stufenwechsel zu ermöglichen, um die seelischen Belastungen, die dabei auszuhalten sind, so niedrig wie möglich zu halten. Wir selbst brauchen dafür eine Haltung, an der sich ablesen lässt, dass Wandel keine Katastrophe sein muss, sondern – bei allen Turbulenzen –neue, passendere Lebens- und Glaubensmodelle erzeugen kann.

Ich als Christin finde hier die Haltung von Johannes dem Täufer sehr stimmig. Bei ihm lerne ich zwei Dinge: Er spürt, dass sich die Welt ändert. Darum motiviert er erstens Menschen, sich auf eine neue Lebenshaltung einzustellen, indem man die alte loslässt („Tut Buße“). Dafür bietet er ein symbolisches Zeichen der Neuwerdung, die Wassertaufe, an. Es ist wichtig, dass wir Ablöseprozesse positiv begleiten und ihnen dadurch etwas von ihrem Schrecken nehmen. Zweitens, und das ist für mich das Entscheidende, erkennt Johannes etwas ganz Bedeutsames. Er setzt das, was er erkennen kann, nicht für absolut. Er sagt: „Nach mir (und meiner Bewusstseinsstufe) wird ein Größerer kommen.“

Das heißt: in mir steigt etwas auf und trifft mich zugleich von außen, das mich und meine momentane Einstellung zur Welt übersteigen wird. Eine solche johannäische Haltung sorgt dafür, dass wir unsere jeweilige Wertestufe nicht zumauern und sie als geschlossenes System betrachten, das allein seligmachend ist. Wie Johannes der Täufer können wir dann aktiv den Bewusstseinswechsel in uns selbst oder auch in unserer Gesellschaft mitgestalten.

Wenn man dann in einer neuen Bewusstseinsstufe angekommen ist, erlebt man wie Virginia Woolf, dass man das Leben mit seinen neuen Bedingungen „wie im Rausch“ akzeptieren kann. Eine größere Wahrheit tut sich auf, Energie flutet herein, die Psyche fühlt sich gestärkt, befreit und eingeladen, sich weiter zu entfalten. Man hat ein neues Land erobert. Man wundert sich auch, warum man all das, was diese neue Stufe an Einsichten ermöglicht, nicht schon längst zuvor wahrgenommen hat. Viele sagen dann: „Ich habe es gespürt, aber nicht ausdrücken können. Jetzt wird mir so vieles klar. Ich lese die Wirklichkeit mit neuen Augen. Auch die Bibel, die Zeitung, Bücher. Meine Welt ist einfach umfassender geworden.“

Ein Stufenwechsel bringt also einen deutlichen Zuwachs an Verständnis für und Einsicht in die Wirklichkeit. Er bedeutet die Erweiterung unseres Wissens- und Informationshorizontes. Auch erreichbare Informationen über weiterführende künftige Stufen (wie unser Buch Gott 9.0) dienen der Entwicklung und laden ein zur Transformation.

Eine Pilgerschaft durch die Stufen kennt kein endgültiges Ziel. Mit dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896-1971) könnte man formulieren: „Das grundlegende Ereignis unserer Existenz ist die Begegnung mit der Realität. Kein Mensch kann sich von der Spannung befreien, die das Aufeinandertreffen der inneren und der äußeren Realität auslöst. Die fortschreitende Annahme der Realität ist eine nie endende Aufgabe.“ Sich auf einer neuen Stufe selbst neu wahrzunehmen und auf ein neues, umfassenderes Welt- und Gottesbild einzulassen, ist ein mutiger Schritt. Wir haben etliche dieser Schritte bereits als Kinder gewagt und gemeistert. Damit mir weitere Schritte im Erwachsenenalter gelingen, kann ich mich an zwei Grundregeln orientieren:

Regel Nr. 1: Jeder Stufenwechsel sollte eine weitere Integration und Transformation der Werte aller vorigen Stufen ermöglichen. Man kann dann die Werte einer Stufe würdigen und sich dennoch darum bemühen, umfassendere Werte anzuerkennen.

Regel Nr. 2: Jede Bewusstseinsstufe sollte ihre besondere Tiefe und ihren Reichtum erschließen dürfen. Dazu gehören auch die persönlichen Erfahrungen, die in Versenkungszuständen gesammelt werden. Auch sie verändern unsere Wahrnehmung der Realität.

Durch diese doppelte Bewegung geschieht echte und dauerhafte Transformation, also Wandlung. Und das ist die grundlegende spirituelle Aufgabe, an die uns die Sakramente oder Gestalten wie Johannes der Täufer erinnern. Und Gott 9.0 hoffentlich auch.

 

Nur ein unruhiges Herz ist offen für Wandel

12.11.2010

Dr. Reiner Blank studierte evangelische Theologe, Soziologie und Psychologie in den USA und der Schweiz. Der Geschäftsführer von Future Systems Consulting in Hamburg ist Spezialist für dynamische Typologien und berät im Change- und Risk-Management Teams und Führungskräfte großer Unternehmen. Ich konnte Reiner Blank nach seiner Lektüre von GOTT 9.0 einige Fragen zum Thema Veränderungsprozesse und Bewusstseinswandel stellen, mit dem er in seiner Arbeit ständig zu tun hat.

Herr Blank, wir durchlaufen heute im Lauf  unseres Erwachsenenlebens mehrere Bewusstseinsstufen und gehen jedes Mal durch eine Phase der Instabilität. Wie wirkt sich das Ihrer Meinung nach auf die Psyche von Menschen aus?

Gott 9.0 Dr. Reiner Blank

Die in GOTT 9.0 beschriebenen Phasen und Stufen spiegeln ja die inneren Kräfte der Psyche wider. Wir empfinden es in unserem Inneren als Ziehen und Drücken, push-and-pull, Paradox, Widerspruch. Auf der einen Seite streben wir nach Sicherheit und Regeln. Sie geben uns Sicherheit. Sie sind Geländer im alltäglichen Miteinander. Gleichzeitig empfinden wir tief in uns Sehnsucht. Wonach? Wer weiß. Ich sage: eine spirituelle Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit. Diese inneren Kräfte formen sich in unterschiedlichste Verhaltenweisen – angefangen von Süchten bis hin zu psychisch programmiertem Rollenverhalten. Wenn ein Mensch sich nicht erlaubt, diese Ambivalenzen der Psyche zuzulassen und anzuschauen (immer verbunden mit einem Gefühl der Unsicherheit), gibt es keine Entwicklung in eine andere Bewusstseinsstufe. 

Viele unserer Leser kennen ihr Enneagramm-Muster oder ihr MBTI, GPOP oder DISG-Profil, mit dem sie durch die Stufen wandern. Welche Dynamiken beobachten Sie da bei den Persönlichkeitstypen?

Genau was das Wort „Dynamik“ sagt und meint: Ein Kräftespiel. Sei es ein Zusammenspiel von Beziehungsmustern, oder Suche nach strukturellen Systemen, in die man sich anpassen kann und dann ein Gefühl der Sicherheit empfindet. – Soziologisch kann man es in jedem Verein, in Gruppierungen und Kirchengeschichten beobachten: In der ersten Phase ist es spannend; die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit werden erfinderisch, innovativ und sind kreativ (Heterogenität ist eine wesentliche Voraussetzung für Kreativität!); dann findet man gemeinsame Regeln (die Dogmen, das Regelwerk der Kirchen, sind ja erst im 4. Jahrhundert entstanden – um ein Establishment zu schaffen und um soziologisch Kontinuität zu gewährleisten); man baut Festungen, in denen man sich sicher fühlt – und schließt das „Andere“ systematisch aus. Aus soziologischer Sicht ist so die Kirche in Nordafrika ausgestorben, weil sie sich in den Städten eingeschlossen hat, um sich vor der Bewegung des Islams zu schützen.

Was braucht es, um die Übergänge gut zu meistern?

Erstens, es gibt keinen Paradigmenwechsel, von einer gewohnten zu einer neuen Stufe, ohne Krise. Also braucht es Kompetenz, konstruktiv Krise zu provozieren und zu steuern. Zweitens, ein tiefes Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in andere. Eine Überzeugung, dass „wir alle“ als Menschen miteinander verbunden sind (Interdependenz alles Lebendigen). Drittens, ein tiefes Empfinden von Sinnhaftigkeit.

Wie können sich Menschen dabei gegenseitig unterstützen?

Sie müssen – als Verantwortungsgemeinschaft – sich auf einen strukturierten dynamischen Prozess miteinander einlassen. Weil wir in unserem Gehirn nicht in Grammatik denken, sondern in Bildern, entwickeln sie miteinander ein gemeinsames Leitbild, sie üben Wertschätzung, entwickeln konkrete Projekte, um das Gemeinsame zu fördern, treffen verbindliche Entscheidungen, setzen ihre Projekte konkret um und feiern den Erfolg und die erlebte Verbundenheit miteinander wie im Wave of Change® Prozess.

Wer hat Ihrer Meinung nach das Zeug, große gesellschaftliche Umbrüche zu begleiten?

Hier braucht es eine Person bzw. Personen, die ein Bewusstsein und eine gewisse Erfahrung mit den Dynamiken der verschiedenen Bewusstseinsstufen haben – und eine Ahnung von der Stufe 9.0...

Wie sollte man dafür psychisch aufgestellt sein?

„Das Markenzeichen der Christen sollte das unruhige Herz sein“ forderte gerade ein Journalist in der Süddeutschen Zeitung. Das unruhige Herz ist offen für Spannung in sich selbst und im Umfeld und für den Zeitgeist. Man muss das Verlangen haben, an die Grenzen zu gehen und darüber hinaus. Wer dabei eine tiefe Spiritualität erfährt, ist bereit und gerüstet für die nächste Phase – und erlebt dabei Erfülltsein und Sinn.

Kennen Sie gute Vorbilder (Einzelne, Gruppen), an denen man sich orientieren kann?

Ich habe gerade Herrn Yunus erlebt, den Gründer der social business Bewegung. Interessant, dass der Oberbürgermeister von Wiesbaden aus Überzeugung dieses Konzept für seine Stadt umsetzen will – und 180 Bürgermeister zusätzlich.

Was wären die ersten nötigen Schritte für Führungskräfte in unserer Gesellschaft oder auch Kirche, um Stufenwechsel unterstützend mit zu gestalten?

Führungskräfte sind zum großen Teil Manager. Auch Kirchenverantwortliche sind vor allen Dingen damit beschäftigt, sich und ihr Umfeld zu managen und die Machtspiele des Alltags zu bewältigen. Für Stufenwechsel braucht es Führungspersönlichkeiten, die diesen Prozess aktiv unterstützen können. Führen basiert auf innerer Haltung, Vorbildsein und der Fähigkeit andere zu inspirieren. Sie können und wollen ihr etabliertes System zum Wohle des Ganzen stören – und konstruktiv verändern im Sinne eines Stufenwechsels.

Herzlichen Dank, Herr Blank!